„Für meine Tochter bin ich ein Dämon“

Ein „Werkzeug der Mutter Gottes“, das prügelt, tritt und würgt: Aussteiger der „Marienkinder“-Sekte schildern einen Alltag voller Demütigungen unter ihrem Anführer Josef Zanker, der jetzt vor Gericht steht  ■ Aus Memmingen Klaus Wittmann

Inge S. blickt entschlossen in die Runde. Die 53jährige will den Kampf aufnehmen. Vierzehn Jahre lang waren sie und ihr Mann mit den acht Kindern bei den „Marienkindern“ in der Unterallgäuer Kreisstadt Mindelheim. Es waren vierzehn Jahre totale Unterdrückung, Beten bis zum Umfallen, Prügel, Tritte, sexuelle Belästigung. „Ich weiß wirklich nicht, wie ich das aushalten konnte, wie ich meinen Kindern das antun konnte. Aber ich werde alles daransetzen, daß ich meine zwei Mädels, die noch drin sind, raushole. Und wenn ich sie entführen muß.“

Inge S. kam zu der katholizistischen Sekte, weil sie nach dem tödlichen Unfall eines Sohnes dort Halt zu finden hoffte. Seit sie vor eineinhalb Jahren ausgestiegen ist, beherbergt sie in ihrem Einfamilienhaus in einem Dorf bei Memmingen immer wieder jugendliche Aussteiger, die geflohen sind vor dem „tollwütigen Josef Zanker“. Im Wohnzimmer stehen noch eine große Marienstatue und ein überdimensionales Kruzifix. Obgleich sie mit der Sekte und deren brutalem Chef, Josef Zanker, gebrochen hat, kann sich Frau S. von diesen Insignien der „Marienkinder“ nicht trennen. Ganz anders ihr 24jähriger Sohn Andreas: „Ich habe die Schnauze voll von der ganzen Scheiße. Mit der Kirche will ich nichts mehr zu tun haben, das hat mir Zanker gehörig versaut. Immer nur beten, beten und nochmals beten.“

Auch ein 52jähriger Vater von zwei Kindern will mit den „Marienkindern“ nichts mehr zu tun haben. Der Mann ist verzweifelt. Noch immer leben eine Tochter und seine Frau bei der Marientruppe. Sie dürfen mit ihm keinen Kontakt haben, weil er – als Aussteiger – des Teufels und vom Dämon besessen ist: „Meine Frau kennt mich nicht mehr, für meine große Tochter bin ich ein Dämon.“

Seit vergangener Woche läuft gegen den 58jährigen Sektenchef Josef Zanker in Memmingen ein Prozeß wegen schwerer Körperverletzung in sieben Fällen. Doch nachdem die Anklageschrift verlesen war, wurde die Verhandlung wieder ausgesetzt, weil Zanker sich nach einer Kehlkopfoperation kaum noch verständlich machen kann. Da ein enger Vertrauter, der ihn dolmetschen könnte, sich weigert, dem Gericht zu helfen, muß nun nach technischen Möglichkeiten gesucht werden: Aufschub für den Menschenschinder.

Eine junge Frau, die im Zeugenraum des Memminger Amtsgerichts vergeblich darauf gewartet hat, daß sie aufgerufen wird, empört sich: „Ich war doch dabei, wie der den Pfarrer Bauer umbringen wollte.“ Als Zanker an der Tür vorbeihuscht und einmal mehr als freier Mann das Gerichtsgebäude verläßt, zuckt sie zusammen. Sie hat immer noch Angst. Der Sektenchef ist schon einmal wegen Nötigung und Körperverletzung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden.

Auch der einstige Geistliche der Sekte, jener Pfarrer Johann Bauer, den Zanker totschlagen wollte, kommt vergeblich, um als Zeuge auszusagen. Mehrmals hat Zanker den 76jährigen brutal mißhandelt. Gleichwohl hat das Memminger Landgericht die Anklage der Staatsanwaltschaft wegen versuchten Totschlags nicht zugelassen. Im April 1993 mißfiel Josef Zanker die Karfreitagspredigt von Johann Bauer. Der Sektenchef würgte seinen Pfarrer so lange, bis dieser bewußtlos zu Boden fiel. Drei Wochen später setzte es erneut eine Tracht Prügel. Diesmal machte Zanker den Geistlichen für das Ausscheiden eines weiblichen Mitglieds verantwortlich. Laut Staatsanwaltschaft „nahm er dabei den Tod billigend in Kauf“.

Doch Zanker war nicht nur ein „begnadeter Würger“, wie die Spätschäden Bauers unschwer erkennen lassen. Der kleine, kräftige Mann mit dem dem großen Holzkreuz auf der Brust, der während der Verlesung der Anklageschrift demonstrativ die Hände faltet, dieser Mann verstand es auch hervorragend, seine Fäuste zu gebrauchen. Als damals, im April 1993, Anna Maria W. dem röchelnden Pfarrer Bauer zu Hilfe kam, „versetzte Zanker ihr einen Kinnhaken“ (Staatsanwalt). Ähnliches widerfuhr der Tochter von Frau W., die wiederum ihrer Mutter helfen wollte. Faustschlag, gegen die Tür geknallt, Pfarrer weitergeprügelt, mit Füßen ins Gesicht getreten, erneut Kinnhaken. „Es ist immer das gleiche“, weiß die 22jährige Julia. „Vom Prügeln verstand der was, der wütete wie ein Berserker“, pflichtet ihr eine andere ehemalige Sektenangehörige bei.

Junge und alte Frauen, auch einige kräftige Mannsbilder, packen jetzt aus. Sie wollen nicht länger in sich hineinfressen, was sie bei den „Marienkindern“ erlebt und erlitten haben. Sie hoffen, daß sie andere vor der rabiaten Sekte warnen können. Viele Jahre haben die Aussteiger in der alten Stadtmühle von Mindelheim gelebt, in dieser kitschig-pompös geschmückten Sektenzentrale, auf der weithin sichtbar die Aufschrift „Ave Maria“ prangt.

In der Kleinstadt haben die Leute mit Fingern auf sie gezeigt – und fanden es heimlich „doch schön“, wie das Haus der „Marienkinder“ geschmückt war. Jahrelang gehörten die Aussteiger zu den Jüngern des „Auserwählten“, der sich laut Anklage als „begnadetes und unfehlbares Werkzeug der Mutter Gottes fühlt“.

Gegen die Tür geknallt, ins Gesicht getreten ...

Seit über zehn Jahren setzt er seine Anhänger gnadenlosem Terror aus, indem er sie – so der Staatsanwalt – „mit unerbittlicher Härte maßregelte“. Dabei war es Apostel Josef stets egal, ob es sich um Frauen, Männer oder Kinder handelte. Seine Anhänger waren seine Leibeigenen. „Sie fragen, wie ich mir das alles gefallen lassen konnte?“ meint ein Mittvierziger mit Armen und Oberkörper wie David Hasselhoff. „Wir mußten uns in Demut üben. Wir durften uns nicht wehren, wenn uns der Dämon befallen hat. Sonst wären wir des Teufels gewesen.“ Heute schüttelt der kräftige Allgäuer den Kopf, versteht sich selbst nicht, und noch weniger will ihm einleuchten, „warum ich diesem Sack nicht längst eine kräftige Tracht Prügel verpaßt habe“. Wen wundert es nach solchen Erklärungen, daß die jungen Mädchen jahrelang die Prügel, Demütigungen, die allsamstäglichen Sühnenächte mit Dauerbeten bis zum Morgengrauen, beinahe widerspruchslos hingenommen haben? „Was sollten wir denn tun, unsere Eltern waren doch auch da drin. Wir wären völlig alleine dagestanden.“

Trotz allem ist Julia (22) vor gut einem Jahr an dem Punkt angelangt, wo kein Bleiben mehr war. Ihr stand eines der gefürchteten persönlichen Gespräche mit Josef Zanker bevor. „Ich habe eine Leiter genommen, bin noch schnell in mein Zimmer hoch und hab' mir meine Zigarettenschachtel und den Personalausweis geschnappt, und dann bin ich abgehauen. Ich bin gerannt, was das Zeug hält, und zwar da, wo keine Autos fahren können, damit sie mir nicht nachfahren.“ Ihre Mutter ist nach wie vor bei den „Marienkindern“, die sich auch „Kreuzträger der Jungfrau Maria“ nennen: Jedes Mitglied muß deshalb ständig ein übergroßes Holzkreuz tragen. Ihre Mutter, sagt Julia, will von ihr, der Abtrünnigen, nichts mehr wissen. Fromme Sprüche, mit Schreibmaschine geschrieben, sind die einzige Antwort, die sie auf ihre Briefe bekommt. Mit Tipp-Ex wurde im letzten Brief sogar noch das „Liebe Julia“ überpinselt.

... geprügelt, gewürgt: Da wütet ein Berserker

Heute kann die junge Frau über manches, was sie in den letzten fünfzehn Jahren erlebt hat, über diese ganze übersteigerte Marienverehrung, nur noch lachen. Aber als sie im Juni vergangenen Jahres türmte, war ihr nicht zum Lachen zumute: „Was für andere selbstverständlich ist, mußte ich erst lernen.“ Wie läuft das mit der Steuer, wenn man endlich Arbeit gefunden hat? Wie eröffne ich ein Girokonto? Brauche ich eine Kreditkarte, wie miete ich mir eine Wohnung? Dann aber das Schöne: Daheim tun zu können, was jahrelang bei härtesten Strafen verboten war: „Weltliche Musik hören. Ich hab's aber auch drinnen immer wieder heimlich getan.“ Es hat eine Zeitlang gedauert, bis sie den Spott ihrer Mitschülerinnen weggesteckt hat. „Du bist doch immer nur verhöhnt worden als der kleine dumme Marienflitzer. Die haben das Kreuz auf der Brust gesehen und gelacht. Die alten Frauen haben mich auf der Straße angesprochen: ,Mei, Mädle, du bist ja so arm dran, mit dem großen Kreuz auf der Brust.‘“ Doch der psychische Druck war nur das eine. Das andere waren die Prügel und Tritte. Tanja (16) ist zusammen mit ihrer Mutter ausgestiegen. „Der Zanker hat mich mit Fäusten ins Gesicht geschlagen, mit den Füßen ins Gesicht getreten, als er mich zu Boden geworfen hatte. Er hat mich brutal an den Haaren gezogen.“ Grund für solche Züchtigungen war bei Tanja mal ein Verstoß gegen die Hausordnung, mal das Wissen über die Beziehung einer Freundin zu einem jungen Burschen.

Aber Vorwand für massive Züchtigungen war oft auch jener Dämon, der in die Sektenmitglieder einfuhr, wenn der Chef das so wollte. Inge S. schildert, wie der Dämon dann von Josef Zanker persönlich wieder ausgetrieben wurde: „Das ist ein Fauchen und Schütteln. Wie ein wildes Tier. Dann legt der sich auf die drauf und verdreht ihnen die Arme. Ich habe das selbst erlebt. Das ist wirklich wahr. Und so holt der sich seine Befriedigung. So hat der auch die anderen Mädchen sexuell belästigt.“ Sie selbst wurde von Zanker mehrmals gewürgt. „Er hat gesagt, er muß diesen Dämon schwächen. Das kann man nur, wenn man der befallenen Person Schmerzen zufügt: Und das hat er mit vielen jungen Frauen und Mädchen gemacht.“ Obwohl auch ihr Mann zur Sekte gehörte, betatschte Zanker sie, langte er ihr unter den Pullover. Widerstand? Fehlanzeige! „Wir durften uns ja nicht wehren!“ Bei anderen Frauen und Mädchen sei er noch zudringlicher geworden. Die junge Frau, die im Gerichtsgebäude vergeblich auf ihre Zeugenaussage wartete, die ununterbrochen Zigaretten raucht und die zusammenzuckte, als Zanker an ihr vorbeilief, nickt heftig, als Inge S. das erzählt. Doch sie schweigt. Kaum eine der Frauen will zum Thema sexuelle Ausbeutung etwas sagen. „Aber es ging bis zum Verkehr“, versichert Inge S..

Und das Treiben geht weiter. Staatsanwälte und Gerichte, selten genug in dieser Sache aktiv, kratzen den Oberapostel wenig. Für ihn sind sie alle Teufel, und die brauchen die „Kreuzträger der Jungfrau Marie“ in keiner Weise zu kümmern.