Die Sympathie der Franzosen für den Streik hielt auch gestern ungebrochen an. Im Unterschied zu früheren Arbeitskämpfen in Frankreich dient dieser Streik ausschließlich der Besitzstandswahrung: Statt um höhere Löhne geht es um die Verteidigung sozialer Errungenschaften – und dabei vor allem um die Zukunft der nächsten Generation. Aus Paris Dorothea Hahn

Sanfte Drohung mit Generalstreik

Eisige Kälte und Schnee überraschten die Franzosen gestern morgen am zwölften Tag des Streiks. Doch der plötzliche Wintereinbruch hinderte sie nicht daran, erneut gegen die Sparpläne der Regierung Juppé auf die Straße zu gehen. In Provinzstädten wie Le Mans und Rouen brachten sie die größten Demonstrationen seit vielen Jahren zustande.

In Paris waren erstmals StudentInnen und ArbeiterInnen gemeinsam unterwegs. Neu waren auch die Ausweitung des Streiks über den öffentlichen Dienst hinaus und die Lahmlegung des Wirtschaftslebens in Regionen, die bislang von dem Arbeitskampf weitgehend verschont geblieben waren.

Während sich die Protestbewegung ausweitete, wiederholten Gewerkschafter und Sprecher der Opposition den Ruf nach Verhandlungen. „Ein Streik ist nur dann ein Erfolg, wenn verhandelt wird“, erklärte FO-Chef Marc Blondel, „es ist an der Regierung, die Gespräche zu organisieren.“ Der Chef der reformistischen Gewerkschaft FO distanzierte sich damit vorsichtig von seiner radikalen Politik der vergangenen Woche, als er in einer historischen Geste dem Chef der kommunistischen Gewerkschaft CGT, Louis Viannet, die Hand schüttelte, bevor er gemeinsam mit ihm demonstrierte.

Zurückhaltender als zuvor äußerte sich Blondel auch zu den Perspektiven des Streiks. Statt von „Generalstreik“ sprach er von einer „Generalisierung des Streiks“. An der gestrigen Pariser Demonstration beteiligte er sich nicht. Ein Teil seiner Basis freilich rief dazu auf. Die CGT hingegen blieb ihrer maximalistischen Forderung treu. Danach muß die Regierung den Sparplan zurückziehen, bevor es überhaupt zu Verhandlungen kommen kann.

Die Sympathie der Franzosen für den Streik hielt ungebrochen an. Wie Premierminister Juppé glauben viele von ihnen zwar, daß Beamte – darunter die Eisenbahner und die seit gestern streikenden Lehrer – „Privilegierte“ seien. Doch ändert das nichts an der weit verbreiteten Angst vor sozialen und materiellen Einbußen. Hinzu kommt das Gefühl, von Jacques Chirac, der einen Wahlkampf „gegen die soziale Ausgrenzung“ geführt hatte, verraten worden zu sein.

Ein gutes halbes Jahr nach seiner Wahl zum Präsidenten für sieben Jahre ist Chirac mit einer Protestbewegung beachtlichen Ausmaßes konfrontiert, deren Forderungen längst weit über gewerkschaftliche Ziele hinausgehen. Mehr noch: Die große Mehrheit der Franzosen – Opposition und Gewerkschaften eingeschlossen – ist überzeugt, daß eine Reform der „Sécu“, der mit 230 Milliarden Francs (circa 65 Milliarden Mark) verschuldeten Sozialversicherung, dringend nötig ist. Was sie aufbringt, ist nicht das Was, sondern das Wie der Reform.

Für ungerecht halten die meisten, daß die 0,5 Prozent Sondersteuer und die zusätzlichen Abgaben für die Krankenversicherung ohne soziale Unterschiede verteilt werden. Daß Arbeitslose ebenso draufzahlen sollen wie Spitzenverdiener. Unverständlich finden viele auch, daß die vom Staat verursachten Schulden der Eisenbahn nun von deren Bediensteten aufgebracht werden sollen. Unverantwortlich finden sie schließlich die durch die absehbaren Personaleinsparungen im öffentlichen Dienst absehbare zusätzliche Arbeitslosigkeit.

Chirac hatte den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ganz oben auf seiner Prioritätenliste angesiedelt. 12 Prozent der Franzosen – weit über 3 Millionen – sind betroffen. Doch statt der erwarteten Verbesserung spüren die Franzosen nun, daß sie sich möglicherweise auf dem Weg in eine neue Rezession befinden. Seit zwei Monaten steigt die Arbeitslosigkeit wieder. Die letzte Statistik wurde mitten im laufenden Streik bekannt. Gleichzeitig sinken die Ausgaben der Privathaushalte.

Im Unterschied zu vorausgegangenen Arbeitskämpfen in Frankreich dient dieser Streik ausschließlich der Besitzstandswahrung. Statt höheren Löhnen stehen die Verteidigung sozialer Errungenschaften und vor allem die berufliche Zukunft der Kinder – der nächsten Generation – an erster Stelle. In diesem Sinne führen die „privilegierten“ Streikenden einen Stellvertreterkampf. Im Vergleich zum Rest der erwerbstätigen Bevölkerung ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad von Beamten noch relativ hoch und sie müssen bei einem Arbeitskampf auch nicht um ihren Posten bangen. Ihr Einsatz ist damit viel niedriger, als derjenige von Streikenden in der Privatwirtschaft. Wenn die Beamten es schaffen, einen Teil ihrer Forderungen durchzusetzen, wäre das ein positives Signal für die ganze Gesellschaft.

Bislang allerdings zeigt die französische Regierung wenig Bereitschaft zum Einlenken. Unterstützung erhielten die streikenden Eisenbahner hingegen von anderer – unerwarteter – Seite: Jean Gandois, der Chef des französischen Arbeitgeberverbandes, erklärte in einem Fernsehinterview, es sei selbstverständlich, daß Leute, die an Sonntagen, Weihnachen und Sylvester arbeiten, das heißt wenn die anderen frei haben, Anspruch darauf hätten, früher in Rente zu gehen.