Gespenstische Ruhe im Paradies

Heute vor 20 Jahren marschierten indonesische Truppen in das kleine Osttimor ein. Seither tyrannisieren sie die dortige Bevölkerung. Die internationale Gemeinschaft schaut weg und schweigt  ■ Aus Dili Philip S. Anderson

Wer am Strand von Dili sitzt, hat freien Blick auf die große Bucht, die im Osten von einer spärlich bewaldeten Hügelkette umsäumt ist. Ockerfarbene Steilhänge erheben sich aus dem Blau des Ozeans. Kleine weiße Sandstrände reihen sich aneinander, unterbrochen von schroffen Felsenpartien. Andernorts wäre ein solcher Küstenstreifen längst von sonnenhungrigen Badegästen bevölkert. Doch es herrscht gespenstische Ruhe im vermeintlichen Paradies. Für viele Einheimische ist dieser Ort die Hölle auf Erden.

Dilis früherer Bischof Monsignore Costa Lopez beschreibt die ersten Tage nach dem indonesischen Einmarsch so: „Die Soldaten töteten jeden, den sie finden konnten. Die Straßen waren voller Leichen – alles, was wir sehen konnten, war: töten, töten, töten.“ Viele Timoresen wurden am Kai zusammengetrieben, erinnerte sich ein Augenzeuge: „Die Opfer mußten einer nach dem anderen auf die Mauer des Piers klettern, so daß ihre Körper ins Meer vielen, als man sie erschoß.“

Jose (22) war damals zwei Jahre alt. Heute geht er täglich am Pier vorbei, wenn er von der Arbeit kommt. „Da drüben liegen noch ihre alten Schiffe“, sagt er und blickt auf die rostigen Landungsboote, die im Hafenbecken von Dili vor sich hindümpeln. „Bleiben wir lieber nicht stehen“, sagt er. „Hier gibt es zu viele Spitzel.“

So oft wir in diesen Tagen zusammentreffen, Jose lächelt nie. Gemeinsame Spaziergänge in der Stadt oder am Strand sind nicht möglich. „Es ist verdächtig, mit einem Ausländer gesehen zu werden.“ Erst im Haus seines Freundes erzählt er von sich: „Meine Familie haben die Soldaten getötet, als ich sieben war. Meinen Vater, meine Mutter und meinen Bruder. Ich bin der einzige, der noch übrig ist.“ Nach der indonesischen Invasion war die Familie in die Berge geflüchtet und schlug sich dort vier Jahre durch. Bis sie von Soldaten entdeckt wurden. „Ich weiß nicht, warum sie mich am Leben ließen. Aber ich mußte zusehen, wie sie meine Eltern erstochen haben.“

Die Folgen der indonesischen Besatzung suchen weltweit ihresgleichen. Mindestens 200.000 Timoresen sind nach Untersuchungen eines australischen Parlamentsausschusses seit 1975 umgekommen. Das entspricht knapp einem Drittel der Bevölkerung. „Nicht einmal Pol Pot gelang es, im Verhältnis so viele Kambodschaner umzubringen“, urteilt der australische Essayist John Pilger.

Als Jose seine Familie verlor, nahmen ihn Freunde zu sich, heute kümmern sich sein Freund Luis und dessen Mutter um ihn. Zwar hat er inzwischen Arbeit auf einer Baustelle, doch von knapp drei Mark Tageslohn kann er nur schwer leben. Wie viele andere in seinem Alter hätte er gerne einen Job in der Verwaltung angenommen. „Aber die wollten mich nicht“, sagt er. „Obwohl ich die höhere Schule abgeschlossen habe.“

Viele junge Timoresen haben in ihrer Kindheit ähnliches durchgemacht wie Jose. Zwar haben die Indonesier inzwischen viel Geld in die Entwicklung der Inselhälfte gesteckt, Straßen und Schulen gebaut. Doch die Herzen der jugendlichen Einheimischen haben sie damit nicht gewonnen. „Ich kann nicht vergessen, was sie mit meiner Familie gemacht haben,“ erklärt Jose. „Die Soldaten sollen verschwinden. Vorher wird sich unser Leben nie verbessern.“

Vor vier Jahren, am 12. November 1991, entging Jose nur knapp dem Tod. Damals eröffnete das Militär das Feuer auf eine Prozession auf dem Friedhof Santa Cruz, nur wenige Straßenzüge vom Haus seiner Freunde entfernt. Jose stand etwas abseits und konnte sich retten. Nach Angaben von amnesty international forderte das Massaker 270 Todesopfer, überwiegend junge Timoresen. „Ich habe dabei drei Freunde verloren.“

Die indonesische Regierung wird nicht müde zu verkünden, daß die Osttimoresen ihre Unabhängigkeit durch die „Integration in den indonesischen Staat“ erlangt hätten. Roger Clark, Experte für Völkerrecht an der Rutgers University in New Jersey sieht dies ganz anders. „Die indonesische Invasion und Besetzung war und ist brutal und illegal.“ Nach seiner Ansicht ist sie mit Iraks Einmarsch in Kuwait vergleichbar. „Nur die Reaktion der Welt war anders.“

Ein Ende des indonesischen Terrors ist nicht in Sicht. Noch immer verschwinden Timoresen spurlos oder werden gefoltert. „Als sie mich bei einer Demonstration erwischten, haben sie meinen nackten Fuß unter ein Tischbein geklemmt und sind zu zweit oben drauf geklettert. Dann haben sie mir Kabel an die Daumen gelegt und Strom durch meinen Körper gejagt, so daß ich bewußtlos wurde“, erinnert sich Joses Freund Luis.

In jüngster Zeit macht sich auf Osttimor eine neue Variante des Schreckens breit. Der indonesische Akademiker George Aditjondro, der inzwischen im Exil lebt, wirft dem Militär vor, es baue zunehmend auf die alte koloniale Taktik von „divide et impera“. Jugendliche Gangs würden angeheuert, um jene Timoresen zu terrorisieren, die sich für die Unabhängigkeit stark machen. Erst im Oktober kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Gruppen in Dili, bei der zwei Menschen starben. Hunderte wurden festgenommen. „Diese Zusammenstöße wurden durch das Militär provoziert“, urteilt ein Einheimischer, der im Parlament in Jakarta sitzt. „Offenbar glaubt das Militär, es sei für sie gefährlich, wenn die jungen Osttimoresen vereint sind.“

In ihrer hoffnungslosen Lage haben sich viele Timoresen der katholischen Kirche zugewandt. „1973 waren noch nicht einmal 28 Prozent der Timoresen katholisch, heute sind es über 92 Prozent“, sagt ein Mitarbeiter von Bischof Carlos Ximenes Belo in Dili. Viele Einheimische sehen in der Kirche den einzigen Verbündeten, der ihnen noch geblieben ist.

Immer wieder hat der Bischof verzweifelte Appelle an die UNO gerichtet. Doch bis heute sind die zahlreichen UNO-Resolutionen, die einen Abzug des Militärs fordern, nicht durchgesetzt. Mehrere Gesprächsrunden zwischen dem portugiesischen und indonesischen Außenminister unter der Schirmherrschaft der UNO sind ergebnislos geblieben. Und Präsident Suharto hat erst vor einigen Tagen öffentlich erklärt, daß er Osttimor auch künftig keinen Autonomiestatus zugestehen wolle. Ein Referendum über die Zukunft Osttimors kommt für die Regierung in Jakarta ohnehin nicht in Frage. Auch aus Militärkreisen sickerte durch, daß das besetzte Gebiet in jedem Falle als „Trainingsgebiet“ gehalten werden soll.

Kirchenvertreter kritisieren auch, daß Osttimor seit Anfang der neunziger Jahre für Zuwanderer von außen geöffnet ist. Geschäftsleute aus Java und Sulawesi haben sich überall niedergelassen und treiben Handel. „Das erzeugt bei den Einheimischen den Eindruck der Benachteiligung, selbst wenn dies gar nicht zutrifft“, sagt ein Priester. Nach indonesischen Angaben sind bisher erst 20.000 Menschen zugewandert. Doch andere Quellen, die nicht genannt werden wollen, schätzen die Zahl der Neuankömmlinge auf über 100.000.

Die Einheimischen sind auf den Wettbewerb kaum vorbereitet. Unter portugiesischer Kolonialherrschaft waren sie meist vom Handel ausgeschlossen. Und die zwei Jahrzehnte indonesischer Militärkontrolle haben viele derart eingeschüchtert, daß sie gar nicht auf die Idee kämen, ein eigenes Geschäft aufzubauen.

Muslimischen Händlern, die schnell zu Geld kommen, begegnen die Einheimischen oft mit Neid oder sogar Feindseligkeit. Immer häufiger entladen sich die Spannungen in gewalttätigen Zusammenstößen. Auch Jose will, daß die Muslime hier verschwinden, „denn dies ist unser Land“. Noch lieber würde er seine Heimat selbst verlassen, wenn die Soldaten nicht bald abziehen. „Mit einem Boot nach Australien“, sagt er und lächelt für einen kurzen Moment. Doch dann wird sein Gesicht wieder traurig finster. „Ein paar Freunde haben das schon einmal versucht. Aber die haben sie erwischt und dann gefoltert.“