■ Soll das Europaparlament der Zollunion mit der Türkei zustimmen, sie ablehnen oder – vertagen?
: Keine ungedeckten Wechsel!

taz: Steckt die Türkei-Politik in einer Sackgasse? Sagt das EU- Parlament ja zur Zollunion, werden womöglich türkische Pro-Europäer gestärkt, die mit Faschisten zusammenarbeiten. Heißt es „nein“ oder Vertagung, hilft das womöglich den Islamisten bei der kommenden Parlamentswahl.

Claudia Roth: Eine Entscheidung ist ein Wechsel auf die Zukunft. Man kann tatsächlich nicht wissen, wie es weitergeht. Die türkischen Parlamentswahlen am 24. Dezember sind ein Trick, um das Parlament für eine Zustimmung zur Zollunion stärker unter Druck setzen zu können. „Ihr müßt mit Ja stimmen, um die Demokraten zu stärken“, heißt es. Da kommt die Keule mit dem Fundamentalismus zum Einsatz. Eine Vertagung wäre Wahlhilfe für weniger europäisch orientierte Kräfte, heißt es. Egal wie im Dezember zur Zollunion abgestimmt wird: Die Parteien werden im Wahlkampf versuchen, daraus Profit zu ziehen.

Trotzdem wollen Sie vertagen. Schwächt das nicht die Pro-Europäer?

Für die starke islamistische Refah-Partei ist die EU nun wirklich nicht verantwortlich. Das ist Folge der Regierungspolitik, von sozialer Verelendung, die riesige Slums entstehen läßt. Die Stärke hat auch damit zu tun, daß Religionsfreiheit unterdrückt wird, während andererseits ein Amt für Religiöse Angelegenheiten finanziert wird.

Gleichzeitig kann aber von demokratischen Kräften beim Wahlbündnis von Frau Çiller gar keine Rede sein. Ihr Bündnis versammelt ein Kabinett hinter sich, dessen Mitglieder Symbole sind für staatliche Gewalt, Terror und die militärische Lösung der Kurdenfrage. Das sind keine Repräsentanten von Demokratie und Rechtsstaat. Deshalb wollen wir uns auf den Trick mit der Wahl im Dezember nicht einlassen. Der Innenausschuß des Parlaments hat unserer Stellungnahme und der Forderung zu vertagen mit einer stabilen Mehrheit zugestimmt.

Es bahnt sich aber eine Mehrheit für die Zollunion an.

Die ist jetzt noch nicht klar. Aber massiver Druck auf die Abgeordneten zeigt Erfolge.

Wer übt Druck aus?

Die nationalen Regierungen, die die Zollunion aus wirtschaftlichen und geostrategischen Gründen nicht weiter aufschieben wollen. Dann üben die politischen „Familien“ Druck aus: Die sozialdemokratischen Führungen sind dafür, weil sie die türkischen Sozialdemokraten in der Familie haben, die in Ankara Regierungspartner sind. Drittens hat die Türkei massive Lobbyarbeit geleistet. Schließlich drückt auch die EU- Kommission, die auch von den USA unterstützt wird. Deren EU- Botschafter hat die USA als Garanten für Demokratie in der Türkei dargestellt.

Sie und Ihre Partei gehören zu den entschiedensten Befürworterinnen einer Vollmitgliedschaft der Türkei zur EU. Andererseits lehnen Sie den Zwischenschritt „Zollunion“ ab.

Die Türkei gehört in dieses Europa. Ich bin absolut für die volle Integration in die EU. Aber: Der Zwischenschritt Zollunion und Vollmitgliedschaft ist nur möglich, wenn sich die Türkei auf den unumkehrbaren Weg der Demokratisierung begibt, die kurdische Frage politisch gelöst wird und die Kriminalisierung der kurdischen Abgeordneten aufhört. Sie sind legal gewählt und sitzen im Knast. Sie müssen freigelassen werden.

Es gibt Reformansätze – die Verfassung wurde abgeändert, in einem berüchtigten Zensurparagraphen wurden die vorgesehenen Strafmaße herabgesetzt, ein Teil der inhaftierten kurdischen Parlamentarier ist nach einem Revisionsverfahren auf freiem Fuß.

Es wurde bei weitem nicht erfüllt, was Frau Çiller selbst versprochen hat. Die wirklich bürger- und menschenrechtsrelevanten Punkte wurden nicht umgesetzt. Positiv ist sicher die Herabsetzung des Wahlalters, außerdem dürfen Auslandstürken nun vom Ausland aus wählen, es gibt einige Erweiterungen der Gewerkschaftsrechte. Aber die Zensur ist nicht abgeschafft. Nur das Strafmaß wurde von fünf auf drei Jahre reduziert, der Inhalt ist in andere Vorschriften übertragen worden. Das ist Kosmetik. Es wurden nur zwei kurdische Abgeordnete freigelassen. Und die kurdische Frage soll immer noch militärisch gelöst werden. Jeder Versuch, das zu diskutieren – über Förderalismus oder Dezentralisierung –, bringt sofort eine Anklage wegen Separatismus. Auch der Ausnahmezustand in den kurdischen Provinzen ist nicht aufgehoben, wie x-mal versprochen wurde.

Selbst Kritiker und Oppositionelle in der Türkei sagen, die Türkei dürfe nicht genötigt, sondern müsse sanft gezwungen werden.

Es sollte überhaupt nicht der Eindruck entstehen, daß da die westlichen Imperialisten kommen und sagen, wo es langzugehen hat, wenn sie dann und wann mal für zwei Tage das Land besuchen. Deshalb habe ich in Istanbul ein Büro, um kontinuierlich dranzusein. Ultimativ überzogene Forderungen würden nur den Europa- und Demokratiegegnern in die Hände arbeiten. Die Forderungen des europäischen Parlaments sind aber realistisch: Die weitere Verfassungsreform ist machbar. Das Parlament in Ankara kann auch den Ausnahmezustand in den kurdischen Gebieten ganz einfach aufheben, statt ihn ständig zu verlängern. Die Frage der inhaftierten Abgeordneten kann auf einem juristischen Weg rechtsstaatlich gelöst werden statt mit einem Verfahren, das ein Tribunal war.

Auch wenn die Türkei ein demokratisches Musterland wäre, müßte die Zollunion von Anhängern einer gerechten Weltwirtschaftspolitik abgelehnt werden. Euro-Wahlen werden das Land überschwemmen, die mittelständische Industrie und einige Große werden nicht standhalten können. Die Türkei verzichtet auf einige Milliarden Mark Zölle jährlich. EU-Strukturhilfen decken nur einen Teil der Ausfälle.

Wäre die Türkei ein demokratisches Musterland, dann wäre ich gegen die Zollunion, weil es zum Schaden des Landes ist. Vertretbar ist das für mich nur als ein politischer Zwischenschritt zur Vollmitgliedschaft. Die Auswirkungen der Zollunion werden sozial und wirtschaftlich teilweise verheerend sein. „So günstig bekommen wir die Türkei nie wieder“, hieß es im Außenwirtschaftsausschuß des Parlaments. Die Großindustrie ist der einzige Profiteur. Unsere politischen Freunde in der Türkei sagen: Wenn die Zollunion als Druckmittel für einen Einstieg in eine unumkehrbare Demokratisierung benutzt wird, dann unterstützen auch sie die Zollunion mit ihren teilweise verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Interview: Hans Engels