Hessen erschrecken Siemens

■ Boykott-Aufruf gegen den Atomkonzern gewinnt neuen Schwung – IPPNW wollen auch die USA einbeziehen

Berlin (taz) – Zum Boykott gegen Produkte von Siemens wird schon seit mehr als zwei Jahren aufgerufen, jetzt soll die Kampagne neuen Schwung bekommen. Immerhin ist die Abteilung Kraftwerksunion (KWU) mit Sitz in Erlangen der einzige AKW-Bauer der Republik. Und auch bei der Herstellung von Kernbrennstoff und sonstiger Atomtechnik ist Siemens in Deutschland marktbeherrschend. Normale Menschen ordern zwar selten Kraftwerke, aber der Elektroriese stellt auch Glühlampen (Osram), Hausgeräte (Constructa) und Computer (Nixdorf) her. „Wir müssen neue Leute mobilisieren“, sagt Gerhard Keller vom Arbeitskreis „Leben nach Tschernobyl“ in Gießen. „Die Initiativen der Anti-Atom-Leute haben alle schon ihr festes Spezialgebiet. Da kann sich kaum jemand für einen Boykott engagieren.“

Nicht nur von Gießen aus kommt neuer Schwung, aber ein Keim für die Bewegung ist das oberhessische Städtchen schon. Der AK „Leben nach Tschernobyl“ sammelte Unterschriften in Hessen. Durch seine direkten Hilfssendungen in Millionenhöhe für die Anwohner von Tschernobyl war er regional bekannt. Erste Boykott-Anzeigen im Gießener und Marburger Stadtmagazin Express unterschrieben auch 33 PfarrerInnen der hessischen evangelischen Kirche. Prompt rief der Konzern bei der Kirchenleitung in Darmstadt an und bat um ein klärendes Gespräch. Doch die Landeskirche zeigte sich renitent: Als neue Energiesparlampen für 100.000 Mark angeschafft wurden, schloß die Kirche Osram ausdrücklich von der Lieferung aus wegen der Atomgeschäfte des Mutterkonzerns Siemens; der Auftrag ging an die ostdeutsche Konkurrenz Narva.

Zumindest eine regionale Wohnungsgesellschaft will keine elektrischen Geräte bei Siemens kaufen, hier drohen ebenfalls Umsatzeinbußen im Bereich von 100.000 Mark. Davon wird Siemens nicht pleite gehen, nervös schon. Denn nach dem Erfolg der Shell-Kampagne werden VerbraucherInnen nicht mehr auf die leichte Schulter genommen. Außerdem tragen inzwischen schon über 120 Gruppen die Kampagne, von der Kirche über die kritischen Aktionäre bis zu den Gorleben-Frauen im Wendland. Und am Samstag werden Anzeigen in verschiedenen Tageszeitungen erscheinen mit der Überschrift „Warum wir nichts mehr von Siemens kaufen.“ Hessische PfarrerInnen sind auch wieder dabei, diesmal über 40.

Auch die Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs (IPPNW) rufen ihre Mediziner- Kollegen auf, keine Kernspin-Tomographen oder Ultraschallgeräte von Siemens zu kaufen. Mit einem solchen Aufruf hatten die kritischen Ärzte in den USA General Electric seit 1982 getriezt, bis der Konzern 1993 offiziell aus dem Atomgeschäft ausstieg. Auf einer Tagung in Schweden wurde nun beschlossen, auch den Siemens- Boykott in die Vereinigten Staaten zu tragen. In der Schweiz führt Siemens schon die Hälfte seiner Umsatzverluste auf die IPPNW-Kampagne zurück. Reiner Metzger

E-Mail: metzger6taz.de

Informationen zur Kampagne: Dachverband der kritischen Aktionäre in Köln, (0221) 5995647