Wettlauf gegen die Kälte

■ Der "Kältebus" sammelt obdachlose Menschen und bringt sie in die Notunterkünfte / 2.000 bis 4.000 Menschen leben in Berlin auf der Straße

Ohne die Frau will er nicht. Der sturzbetrunkene Mann mit der roten Knecht-Ruprecht-Mütze bleibt mitten in der Wartehalle des Berliner Bahnhofs Lichtenberg stehen und weigert sich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Die Frau mit dem jugendlichen Mondgesicht, ebenfalls stark alkoholisiert, quält sich unterdessen mit einer Krücke die Treppe zur Halle hoch. „Ich will keinen Ärger“, murmelt sie immer wieder vor sich hin.

Ärger hat sie gerade den Wachmännern auf dem S-Bahnsteig gemacht. Kältehelfer Gunnar Fiedler kommt gerade noch rechtzeitig, um den Rausschmiß ins Nirgendwo mit einem Übernachtungsangebot zu kontern. „Wissen Sie schon, wo Sie heute nacht schlafen?“ lautet seine Standardfrage – fünf Nächte in der Woche, wenn die Außentemperatur unter den Nullpunkt fällt.

Seit drei Jahren ist Fiedler in den Wintermonaten mit seinem „Kältebus“ unterwegs. Der Mitarbeiter der Berliner Stadtmission kommt zu denen, die aus eigener Kraft nirgendwo mehr hinkommen – und bringt sie mit dem Bus in die jeweils offenen Notübernachtungsquartiere. Der nächtliche Einsatz bei Kälte, Eis und Schnee hat Fiedler und seinen Helfern den Beinamen „Eisengel“ eingebracht – ein Titel, mit dem er nicht viel anfangen kann, weil er „zu sehr auf die Tränendrüse“ drückt.

Als ersten Halt in dieser Nacht steuert Fiedler, dessen Team immer aus drei Helfern besteht, um 21.30 Uhr den U-Bahnhof Kurfürstendamm an. In der Frauentoilette des Bahnhofs sitzen zehn zugedröhnte Junkies auf dem Boden im Müll und streiten sich, weil Tina gerade bestohlen worden ist. Die Jeans ist weg. Geblieben ist ihr nur eine dünne Stoffhose. Bevor es losgeht, läßt sich Tina noch schnell einen Schuß in den Hals setzen. Blut läuft aus dem Einstich.

Sie und drei andere Junkies wollen mit. Mit ihnen steuert Fiedler die Notübernachtung in der Franklinstraße an. Die Aufnahmeprozedur dort dauert ihm zu lange: „Unser Hauptproblem ist, daß wir immer gegen die Zeit fahren.“ Die meisten der Quartiere machen zwischen 23 und 24 Uhr dicht. Wer dann noch kommt, hat Pech gehabt. Auch wer allein kommt, wird manchmal abgewiesen. Fiedler muß die Obdachlosen immer wieder davon überzeugen, daß sie mit seiner Hilfe Zugang finden. „Es gibt zu viele schlechte Erfahrungen“, sagt der Sozialarbeiter.

Am Bahnhof Zoo werden alte Bekannte von den Kältehelfern mit Handschlag begrüßt. Zwei von ihnen wollen bei mehreren Grad unter Null und eisigem Wind lieber im Zelt schlafen. Sie bekommen Schlafsäcke und Decken geschenkt. Einen alten Mann, der in einem Mülleimer kramt, spricht Fiedler gar nicht erst an: „Der will nie mit.“ Karl-Heinz hält das Warten im Bus nicht aus und torkelt mit einer fast geleerten Flasche Doppelkorn wieder nach draußen.

Wie viele Menschen in Berlin auf der Straße leben, weiß niemand. Auf 2.000 bis 4.000 schätzt die Senatsverwaltung für Soziales die Zahl derer, die nicht einmal in den „Läusepensionen“ registriert sind. 19 von ihnen gabelt der Kältebus in dieser Nacht am Bahnhof Zoo auf. Später am Hauptbahnhof ist die Halle ausgestorben. Im letzten Winter hat Fiedler hier noch Nacht für Nacht bis zu 20 Hilfsbedürftige angetroffen. In diesem Jahr, sagt der Diakon, seien die Bänke umgebaut und der Wachdienst verstärkt worden. Offensichtlich mit „Erfolg“, wie die leere Halle zeigt.

Gegen halb drei machen Fiedler und sein Team Schluß. Am Hermannplatz oder am Zoo könnte er wahrscheinlich noch Menschen ohne Dach über dem Kopf finden – doch mittlerweile sind alle Notübernachtungen geschlossen. Über das mobile Telefon bestätigen ihm mehrere Quartiere: Nichts geht mehr – bis zum nächsten Abend. Dann wird auch der Kältebus wieder unterwegs sein. Asmus Heß, epd

Kontakt für Spenden: Gunnar Fiedler, Tel.: 8913000