Realitäts(ver)lust

Verwirrt uns der Realitätsanspruch der „Lindenstraße“, oder entzaubert er die Serie vielmehr?  ■ Von Gerhard Bliersbach

Erinnern Sie sich an den Beginn des Films „The Girl Can't Help It“ mit Jayne Mansfield und Tom Ewell aus dem Jahre 1956? Regisseur Frank Tashlin ließ damals Tom Ewell den Film auf einer Bühne einleiten, und der schnippte nach links und nach rechts mit den Fingern – und vergrößerte das Kinobild auf „imponierendes Cinemascope-Format“, wie er sagte. Drei Jahre zuvor, 1953, hatte die amerikanische Filmindustrie das Cinemascope-Verfahren eingeführt, um die lästige Fernsehkonkurrenz (mit dem winzigen Bildschirm) zu deklassieren. Darüber machte sich Frank Tashlin lustig. Und die Kinogänger konnten (vielleicht) mitlachen, weil sie entdeckten, wie sehr sie die Cinemascope-Attraktion ins Kino gelockt hatte.

Erinnern Sie sich an Wolfgang Petersens „Smog“, 1973 in der ARD ausgestrahlt (Buch: Wolfgang Menge)? Ein dicker, grauer Nebel breitete sich auf dem Bildschirm aus, die Behörden gaben Katastrophenalarm, die Polizei stoppte den Verkehr, die Bevölkerung schloß Türen und Fenster: Der „Smog“ kroch in unsere Wohnzimmer. Der WDR wurde von einigen Zuschauern angerufen, die wissen wollten, wie es bei ihnen stünde. Die Sendung machte Furore. Frank Tashlin spielte mit dem Kino, Wolfgang Petersen mit dem Fernsehen. „Smog“ operierte mit den Stilmitteln von „Tagesschau“ und „Brennpunkt“. Im Kino wissen wir: Alles nur Film. Im Wohnzimmer müssen wir uns orientieren – wir bewegen uns in vielen Kontexten: von den Nachrichtensendungen zu den Diskussionsrunden, von den Sportübertragungen zu den Interviews, von den Reportagen zu den Shows, von den Serien zu den Spielfilmen; wir steigen um oder steigen aus, wechseln die Kontexte (Kanäle) und sind (im allgemeinen) beweglich. Dazu haben uns Videorekorder, Fernbedienung und die Konkurrenz der Kanäle verholfen.

Es braucht Zeit, um sich an ein Medium zu gewöhnen und damit zurechtzukommen. Das war und ist so mit der Zeitung, mit dem Kino, dem Auto, der Fotografie, mit dem Fernsehen, dem Supermarkt, den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit der Werbung und dem PC. Bei den ersten Filmvorführungen sollen die Leute aus dem Kino gerannt sein. Heute rennt keiner mehr raus; wer reingeht, weiß ungefähr, was sie oder ihn erwartet.

Aber was ist mit der „Lindenstraße“? Deren Autorenteam bemüht sich, die Lebenskontexte des Publikums mit den Lebenskontexten der Serienfiguren zu synchronisieren. Schönes Beispiel: Am Sonntag der letzten Bundestagswahl tauchte in der „Lindenstraße“ die Wahlsondersendung der ARD mitsamt ihren aktuellen Hochrechnungen wieder auf, welche die Akteure kommentierten. Ein besorgtes Argument gegen diese technisch leicht machbaren Tricks lautet: Die Grenze zwischen Fiktion (Bildschirm) und Realität (Wohnzimmer) würde verwischt, das Publikum verwirrt.

Unterstellt wird ein träges Publikum, das ungeübt ist, sich in verschiedenen Kontexten zu bewegen. Aber im allgemeinen finden sich die Leute gut zurecht in den sekundenkurzen Werbespots. Nein, es ist eher umgekehrt. Die Wahrnehmung für die Differenz von Fiktion und Realität wird durch solche Spielereien eher sensibilisiert. Denn die Verknüpfung von Fiktion und Realität in der „Lindenstraße“ verweist (was die Fernsehleute normalerweise zu vermeiden suchen) auf die Inszenierung der Sendung und läßt uns fragen: Wie haben die das bloß gemacht? Wer so fragt, distanziert sich vom elektronischen Medium und hat Spaß am Entdecken einer spielerisch gemeinten Inszenierung. Und je mehr auf die Art der Inszenierung geachtet wird, um so schärfer wird die Fiktion als etwas Gemachtes wahrgenommen – und um so größer wird der Abstand zur eigenen Lebenswirklichkeit.

Eine solche Haltung vorm Fernsehgerät hat Folgen: Ich lasse mich nicht mehr so ohne weiteres von der Fernsehfiktion tragen, sondern steige schon mal gedanklich aus, um den Fernsehleuten auf die Schliche zu kommen. Die Fiktion wird überprüft; sie geht nicht mehr so ohne weiteres durch.

Woher kommt die Furcht vor der Verwirrung der Wahrnehmung? Sie speist sich aus einem aristokratischen Kulturverständnis, welches der Massenkultur mißtraut. Bekanntes medienkritisches Argument: Die Television macht uns zu passiven Konsumenten. Das stimmt nicht. Die Television betreibt ein Beziehungsgeschäft, in dem wir ganz schön aktiv sind. Nehmen wir den Unterschied von Hörfunk und Fernsehen. Wenn wir im Rundfunk einen Kommentar hören, konzentrieren wir uns auf den Text und entwickeln (vielleicht) ein vages Bild von der Autorin oder vom Autor. Wenn wir im Fernsehen einen Kommentar von einer Sprecherin oder einem Sprecher vorgelesen sehen, reagieren wir auf ein Gesicht – und bewegen uns in einer aktuellen Beziehung: Wir suchen das Gesicht ab, mustern die Mimik und Gesten, probieren einen Kontakt und sortieren unsere Sympathien und Antipathien. Wir leisten Beziehungsarbeit und entwickeln unmerklich eine phantasierte Vertrautheit.

Nehmen wir den Unterschied der Beziehungsmuster bei der „Tagesschau“ und bei der „Lindenstraße“. Bei der „Tagesschau“ sind wir Zaungäste; wir erleben uns weggesperrt. Die Bundesminister verlassen das Kanzleramt, stürzen in ihre schweren Dienstlimousinen und rollen davon. Wir sehen noch die Nummernschilder. So laufen wir häufig mit unseren Beziehungsbemühungen und unseren Versuchen, die fremden Welten zu verstehen, ins Leere. Die Kontexte müßten erläutert und die Hintergründe übersetzt werden. Geht es beispielsweise in der sogenannten Kanzlerrunde – von der wir den aufgeräumten Kanzler und die strahlenden Minister kennen, den mächtigen Tisch mit den Kaffeetassen und den Wasserflaschen – so zu wie in der Abteilungskonferenz eines Krankenhauses?

Dagegen ist die „Lindenstraße“ ganz anders verfügbar. Deren Realität ist nah; wir können sie mit unseren Beziehungsbewegungen sortieren; hier fungieren unsere Alltagserfahrungen als Verständnishintergrund. Eltern unter den Zuschauern können vielleicht aufatmen; andere Eltern haben auch ihre liebe Not mit den aufsässigen Kindern, die sich glücklicherweise nach einiger Zeit als ganz vernünftig erweisen. Kinder können aufatmen: Andere Gleichaltrige haben auch ihren Knatsch mit den ätzenden Eltern, die sich als passabel erweisen. Familien können vorm Bildschirm gemeinsam aufatmen: Den Ärger mit den Nachbarn gibt es auch in der Münchner Lindenstraße. Auch den Ärger mit der Sozialpolitik der Bundesregierung und mit dem Zustand der Bundesrepublik. Wir können uns entdecken, und wir können uns erkennen.

Die „Lindenstraße“ handelt von den Dramen und Leiden des Alltags, von den Happy- und den Unhappy-Endings, von der Bösartigkeit und der Großzügigkeit der Menschen. Wir sind nicht passiv; wir nehmen Partei, vergleichen, bilanzieren und orten irgendwie den Platz, den wir in dieser Gesellschaft einnehmen; wir sind in der „Lindenstraße“, und wir sind zu Hause, in unseren Wohnzimmern. Der Kontrast schärft den Blick für den eigenen Alltag.

Die Furcht vor der Wahrnehmungsverwirrung gehört zu einer altmodischen Psychologie, welche den Subjekten wenig zutraut. Vor allem wenig dem Spiel der Phantasie. Es war der britische Psychoanalytiker Donald W. Winnicoot, der das kreative Potential des Spiels zum Zentrum seiner Theorie machte. Wenn ich Realität für mein Spiel zurechtphantasiere – zum Beispiel einen Klavierhocker zu einem Autolenkrad mache –, triumphiere ich über die Dinge und lerne am Ende des Spiels zugleich die Differenz kennen zwischen eigener omnipotenter Phantasie und der Wirklichkeit eines Möbelstücks. Die „Lindenstraße“ spielt eher zuwenig.

Gerhard Bliersbach ist Medienpublizist und Psychologe am Landeskrankenhaus Düren