Schwule Küsse erst nach acht!

■ CSU-Politiker und andere Ordnungshüter gehören zu Geißendörfers Stammpublikum – wie das Politikum zur Serie

„,Lindenstraße‘ wird politisch“ hieß es in der Kölner Lokalpresse im Herbst 1987. Und weiter unten: „,Lindenstraße‘ wird noch härter“. Beides hatte Hans W. Geißendörfer höchstselbst versprochen: Politische Themen wolle man fortan integrieren und die sozialen noch ausgiebiger behandeln.

Das allein war damals schon eine Frechheit. Denn die Tatsache, daß es bis dahin bereits reichlich Alkoholismus, Selbstmord, Erpressung und, besonders schlimm, Homosexualität am Sonntag nach der „Sportschau“ zu sehen gab, hatte noch im April 1986 die ARD- Hauptversammlung dazu bewogen, eine harmlosere „Lindenstraße“ zu fordern; eine, die nicht allein „von Konflikten und Bösem“ bestimmt sein sollte, wie der damalige Fernsehdirektor Günther Stuve es ausdrückte. Die ARD-Oberen aber setzten sich nicht durch, im Gegenteil: Die „Lindenstraße“ wurde zum Zentralorgan öffentlich-rechtlicher Tabubrüche, worüber man gelegentlich vergaß, daß es sich doch eigentlich um Fiktion handelte.

Weniger die berüchtigte Zuschauerpost und damit Volkes Stimme empörte sich über die Serie als vielmehr beleidigte Politiker. „Eine seltsame Mischung aus seichtem Kitsch und politischer Botschaft“ – so rezensierte Edmund Stoiber (CSU) 1988 die „Lindenstraße“. Noch weniger Spaß verstand im selben Jahr Peter Gauweiler (CSU), als im Zusammenhang mit Bennos Aidserkrankung der Satz fiel: „Gauweiler und Co, das sind doch alles Faschisten.“ Gauweiler klagte, verlor, ging in die Revision und verlor erneut. Zwei Erfolge konnte er dennoch verbuchen: Bei der Wiederholung der Folge 149 wurde der Satz auf Drängen des Bayerischen Rundfunks gestrichen und, viel wichtiger: „Gauweiler war über zwei Instanzen in den Medien“, sagt Produktionsleiter Joachim Christian Huth und vermutet: „Er wollte nicht gewinnen, sondern nur einen Prozeß führen.“

Gauweiler hatte also immerhin erkannt, welches breitenwirksame Potential in der Serie steckt. Damit gab er indirekt ihren Machern recht, die sich, manchmal überdeutlich, um Volksaufklärung bemühen und Themen wie Mülltrennung, Tierschutz und Freßsucht regelmäßig auf die Figuren und Folgen verteilen. Geißendörfers Konzept schien aufzugehen: Zunächst galt es, so der Filmemacher, „Köder auszulegen mit ganz normalen Geschichten“ und die Serie dadurch zu etablieren; dann aber wurde „systematisch angedockt“, was das Autorenteam für „die Realität in der Republik“ hält.

Daß die angesprochenen Themen tatsächlich ernstgenommen, ja, daß sie mittels der „Lindenstraße“ oft erstmals wahrgenommen werden, zeigt sich immer wieder. Der Kuß zweier Serien- Schwuler riß eine Fernsehnation aus ihrer Verdrängungslethargie und mit ihr erneut den WDR- Fernsehdirektor: Männer durften sich fortan nicht mehr küssen, jedenfalls nicht vor acht Uhr. Aber auch hier war er am Ende machtlos: „Seitdem hat jede Serie ihren Schwulen“, sagt Huth. Andererseits hatten die Aidsberatungsstellen einen ungekannten Zulauf, nachdem die Figur des Benno an Aids erkrankt war. Solche enorme Wirkung erfordert, bei einem konstanten Millionenpublikum, Verantwortung: Als die kleine Lisa kurz davor stand, ihrem Leben ein Ende zu setzen, lenkten die Autorinnen ein, aus Angst vor Nachahmung. Gleiches galt für Frank Dressler, der nach seinem Drogenentzug vorbildlicherweise nicht rückfällig wurde.

Die Grenzen des Machbaren sind längst definiert: Im November 1989 fand vor dem Privathaus des damaligen Bundesumweltministers Töpfer eine Anti-Atomkraft- Demonstration statt, die Robin Wood organisiert hatte. Am selben Abend war in der „Lindenstraße“ von einer Robin-Wood- Demo vor Töpfers Haus die Rede, bei der Benny mitmachte. Das war kein Zufall. Geißendörfer hatte die Sache zusammen mit der Umweltschutzorganisation lange geplant und zeitlich koordiniert. Heute sagt er darüber, er habe nur mal „die Wirklichkeit ins Fernsehen“ bringen und austesten wollen, wie weit man dabei gehen kann. So weit jedenfalls nicht. Geißendörfer stand kurz vor dem Rauswurf, und der WDR konnte nur mühsam die Wogen glätten.

Auch die Dokumentaraufnahmen der vom Tagebergbau zerstörten Landschaft in Borna bei Leipzig hat man der Serie dort übelgenommen. Und zuletzt beschwerten sich die Türken über die Thematisierung der Folter in der Türkei mittels der Figur des Griechen Vasily. „Hier haben wir einen Fehler gemacht“, sagt Geißendörfer, „und nicht daran gedacht, daß wir dadurch auch das Thema Griechen und Türken berühren, was das Thema Folter schließlich überdeckt hat. Wir üben halt noch immer.“ Oliver Rahayel