„Taube“, „Chico“, „Tiger-Tom“

Kennen Sie das? Sie sitzen vor dem Fernseher, bunte Bilder ziehen vorbei, und plötzlich kribbelt's auf Ihrer Haut. Sie greifen zur Fernbedienung und wollen nur noch schnell weiter. Und doch bleiben Sie dran: Es wird peinlich!

Die „Lindenstraße“ ist voll von diesen Momenten: Man will es nicht wissen, nicht hören, nicht sehen. Wenn Mutter Beimer sich wieder mal aus irgendeinem Unterrock pult, wenn Hansemann zwischen Seidenlaken den Latin Lover simuliert, wenn Iffie Zenker mit quengelnder Stimme und stierem Blick ihren Schwiegervater anbaggert. Unerträglich! Den Startschuß für diese zumeist intimen Momente, die uns Zuschauer in gequälte Voyeure verwandeln, liefern die Kosenamen, die uns schon im wahren Leben so peinlich sind, daß wir sie nicht einmal der besten Freundin anvertrauen.

Doch die „Lindenstraße“ – wahrer als das wahre Leben – kennt auch hier kein Pardon und überschüttet uns mit verbalen Zuckerstückchen.

Der erste Griff bei der Namensfindung geht natürlich ins Tierreich. Da wird aus einer Beimerschen Göre der „Tiger- Tom“. Und Hajo Scholz ruft seine Berta ganz zärtlich und fast ohne Zungenstopp „Rehlein“. Frau Pavarotti gibt sich dagegen ganz uninspiriert und verniedlicht ihren Enrico zum „Mäuschen“, lediglich ihre italienische Version „Topolino“ gibt dabei dem liebsten Kosenamen der Deutschen einen exotischen Pfiff. Den Vogel aber schoß dereinst Hansemann ab, als er noch mit Mutti das Sofa teilte: „Taube“ säuselte er, und unser aller Glucke erschauerte. Ob er dabei an die Ratten der Lüfte dachte oder an das unbefleckte Friedenssymbol? Hans hat sein Geheimnis mit ins neue Nest genommen.

Die zweite Kategorie der gutturalen Streicheleinheiten orientiert sich ganz am multikulturellen Flair der Münchner Nebenstraße. Das aus Mexiko importierte Adoptivkind Manoel wird in trauten Momenten zu „Chico“, und sexy Vasily aus Griechenland nennt seine Beate selbst beim härtesten Beziehungsclinch konsequent „Matiamou“. Das heißt nichts weiter als „Ich sehe durch deine Augen“ und erzählt doch so viel über eine von Liebe verschleierte Optik. In alter Papagallo- Tradition bringt Enrico seine Isolde zum Klingen mit „Bella Gioia“. Da stecken alle Mandolinen Italiens drin, und jegliche Schwere, die der deutschen Version „Schöne Freude“ anhängt, ist dahin.

Aufatmen darf endlich auch Klaus Beimer, denn nach dem ersten Geschlechtsverkehr kann seine Mutter ihr „Klausi“ oder „Mein Hase“ nun wirklich stecken lassen. Auch wenn es ihr nicht paßt: Der Junge ist auf dem Weg zum Mann.

Der Vollständigkeit halber muß noch nachgetragen werden, daß Hansemann in seiner Anna „meine Schöne“ zu erkennen meint, daß Hajo Scholz schon mal „Nicki“ gerufen wird, in vager Anspielung auf den Cartoon-Detektiv „Nick Knatterton“ – und nicht zu vergessen: „Cinderella“. So lange ist sie, Frau Dressler, schon dahin, und bleibt doch in unseren Herzen als erste öffentlich-rechtliche Schwulenmutti.

Ganz bescheiden nehmen sich dagegen die beiden Alten, die Kochs aus: Er ruft sie „Röschen“, sie ihn „Hubertchen“. Das klingt liebevoll und solide und riecht ganz nach goldener Hochzeit.

So kriegen fast alle ihr Fett weg, gut gemeint und bös gewollt. Aber eine fehlt im Reigen der Geliebten und Gescholtenen: Hausmeistergattin Else Kling. Bei ihr versagt jede Phantasie. Mit selbstgestrickten Anreden will niemand ihr nahe sein, dafür steckt sie ihre Nase in jede Angelegenheit. Ganz wie wir zu Hause vor dem Schirm. Elmar Kraushaar