Ich saß auf Helgas Bettkante

Schicksalsschläge zwischen dünnen Spanplatten, kanadisches Laub an deutschen Bäumen: Auf dem WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd steht die „Lindenstraßen“-Factory  ■ Von Reinhard Lüke

Der Kerl hat's hinter sich. Keine Frage. Wann er sein Leben aushauchte, weiß niemand so genau. Warum und wie lange er da schon mit aufgerissenen Augen, den Bauch grotesk himmelwärts gereckt, im Wasser liegt, wird wahrscheinlich nie ermittelt werden. Denn dieser Tote stand in keinem Drehbuch. Die Wasserleiche ist ein Fisch – nur einer unter vielen in diesem quadratischen Gewässer. Möglich, daß er an Kummer verendet ist. Als Requisite im Aquarium in Gabi Zenkers Schlafzimmer hat er schließlich manch Leid mitansehen müssen.

Doch an diesem trüben Novembertag ist sein Ableben noch nicht einmal bemerkt worden. Das Team dreht gerade draußen. Eine Einstellung (für Folge 528; Sendung am 14. Januar 1996) auf jener Straße mit den Potemkinschen Häuserattrappen, von denen – bis auf ein paar Ausnahmen – nur die Fassaden „bespielbar“ sind: Jener rund 150 Meter langen „Lindenstraße“, die der Serie zwar den Namen gab, aber doch vergleichsweise selten zu sehen ist.

Der Lindensträßler an sich verläßt seine Behausungen bekanntlich höchst ungern. Wenn er sich ausnahmsweise doch mal einen hinter die Binde kippen will, springt er seit jeher rüber ins „Akropolis“. Das liegt in Wahrheit unter demselben Dach wie die Wohnungen und ist nur ein paar Meter entfernt. Diese beiden Studios, ein wabenartiges Labyrinth aus Spanplattenwänden, sind das Herzstück der „Lindenstraße“. Wo auch immer die Helden zwischen Helgas guter Stube, Dresslers Praxis und Elses Waschküche vom Schicksal gebeutelt werden – es trifft sie irgendwo auf diesen gerade mal 2.500 Quadratmetern auf dem WDR-Gelände in Köln- Bocklemünd.

Hier stehen die rund 15 Wohnungen und anderen Lokalitäten mit zirka 70.000 Requisiten – von Hubertchens Uhrmachertischchen bis zum Foto des früh an Aids verschiedenen Benno ist alles an seinem Platz – jederzeit einsatzbereit, ohne daß da für einen Szenenwechsel erst großartig die Ausstatter anrücken müßten. Desweiteren schweben über jeder Parzelle ein paar der insgesamt 900 Scheinwerfer. Die „Normalbeleuchtung“ für jedes Zimmer ist gespeichert und auf Knopfdruck abrufbar.

Als Wanderer durch dieses Stück anfaßbarer Fernsehmythos staunt man denn doch: Die Behausungen sind winzig, den meisten fehlt überdies eine Außenwand – wegen der Kameras. Und dann steht man in dieser überdimensionierten Puppenstube irgendwann ehrfürchtig davor: Helga Beimers Bett! Und der Wanderer gesteht: Er hat sich kurz draufgesetzt. Mußte einfach sein.

Draußen drehte man an diesem Tag derweil immer noch die Vorfahrt eines Busses der Münchener Stadtwerke. Die Bäume bereits ohne jedes schmückende Blattwerk. Doch diese aus Jahreszeitenanpassung von Mutter Natur ist nach zehn Jahren nur noch Routine. Wie so vieles hier. Da die Folgen immer zwei bis drei Monate vor der Ausstrahlung aufgezeichnet werden, müssen im Echtzeit- Herbst die Blätter von den Bäumen gerupft werden. Und wenn die Figuren dann schon im Februar Frühlingsgefühle überkommen sollen, rückt das Gärtnergeschwader wieder an und darf ein paar Tausend Blätter an die kahlen Äste kleben. Knackiges Grünzeug, das eigens aus Kanada eingeflogen wird. Künstliches Laub würde den Ton verderben, bei jedem Windhauch klänge es wie das Rauschen im Lamettawald.

Und O-Ton muß schon sein bei der „Lindenstraße“. Schließlich hält man sich noch was darauf zugute, zwar am Fließband, aber immerhin noch mit künstlerischem Anspruch zu produzieren. Eine Selbsteinschätzung, die den Beteiligten um so leichter fällt, seit auf dem Nachbargelände die ARD- Daily-Soap „Verbotene Liebe“ gedreht wird. Während dort, wo täglich 25 sendefertige Minuten vom Band laufen müssen, schon mal ein Mikro im Bild hängt oder ein Darsteller seinen Satz vielleicht doch besser noch einmal aufgesagt hätte, wird bei der „Lindenstraße“ noch reichlich geprobt, und wenn's sein muß, werden von einer Einstellung auch 20 Takes gedreht.

Produktionstechnisch ist die „Lindenstraße“ eine hochkomplizierte Zusammenarbeit zwischen WDR und der Geißendörfer Film- und Fernsehproduktion (GFF). Anders als bei „Verbotene Liebe“ tritt hier der WDR nicht nur als Dienstleister auf, indem er Studios und Techniker an eine private Firma vermietet. Grundsätzlich gilt: Alles, was die sogenannten künstlerischen Fragen betrifft, macht die GFF, das Handwerk der WDR. So wird die Entscheidung, wie Elses Küche tapeziert werden soll, von der GFF gefällt. An die Wand bringt sie der WDR.

Die Arbeitszeiten für die rund 40 Hauptdarsteller und zirka 70 Techniker sind vergleichsweise geregelt und also angenehm. Gedreht wird werktags zwischen 10 und 18.30 Uhr. Und montags fällt die erste Klappe nach zwölf, damit die Schauspieler, die über das ganze Bundesgebiet verstreut wohnen, den Sonntag noch daheim verbringen können.

Wer da so durch die Kulissen streift und den Leuten bei der Arbeit zusieht, bekommt unwillkürlich das Gefühl, als könne hier eigentlich alles ewig so weitergehen. Aber das hat der Goldfisch womöglich auch lange Zeit gedacht.