Endlos dem Ende entgegen

Eine Ikone real existierender Alltäglichkeit: Seit zehn Jahren zeigt uns die „Lindenstraße“ Woche für Woche, wie die Zeit vergeht  ■ Von Knut Hickethier

Bei der Suche nach einer überspielbaren Videokassette stieß ich vor kurzem auf den Rest einer „Lindenstraße“-Folge von 1986, in der Helga Beimer ihren Mann verdächtigt, fremdzugehen, obwohl er nur einer Mitbewohnerin des Hauses behilflich sein wollte. Wir wissen heute: Es war der Anfang des Zerwürfnisses „nach 18 Jahren Ehe“, wie er ihr, wohl wissend, wie die Serie weitergeht, auf dem mir erhaltenen Restband vorhält. Längst sind diese 18 Jahre zur Vorgeschichte geworden: Fast zehn pralle Jahre turbulenten Serienlebens haben seither Platz gegriffen.

Helga Beimer strickte damals noch, während sie ihrem Hans Vorwürfe machte. Benny Beimer, vielleicht gerade vierzehn, nahm den Streit auf Video auf und spielte alles den erstaunten Eltern vor. An den Kindern ist das Altern der Serienfiguren am deutlichsten zu beobachten. Woche für Woche haben wir miterlebt, wie Benny größer wurde, irgendwann erst das Haus und dann die Serie verließ, um (na, was wohl?) Medienwissenschaft zu studieren.

Viel erschreckender ist das Altern der erwachsenen Figuren. Denn ihr Altern geschah ungeplant, sollten sie doch unveränderliche Typen im Figurentableau der Zeit bleiben. Doch in der Forterzählung dieser unendlichen Geschichte haben wir erfahren, daß auch Helga Beimer älter geworden ist. Das zeigen weniger die Krähenfüße um Marie-Luise Marjans Augen, der neue Haarschnitt, die tieferen, „vom Leben“ eingegrabenen Linien um den Mund. Anders geworden ist ihr Verhalten, ihre Art, wie sie Leben führt und vorführt. Helga Beimer verstrahlt ihre Mütterlichkeit heute gebrochener, sie hat sich auf dem Weg zur Geschäftsfrau von vielem, auch vom Stricken emanzipiert.

Den Eindruck, sie sei immer dieselbe geblieben, entlarven die frühen Folgen als pure Selbsttäuschung, als milden Schleier nachlassenden Gedächtnisses. Auch wir haben uns verändert. An Helga und Hans Beimer erfahren wir unser eigenes Altwerden, selbst wenn wir glaubten, unverändert zu bleiben. Was wir einmal als kleinbürgerliche Gegenwart der Serie belächelten, ist jetzt ein Dokument bundesdeutscher Kulturgeschichte. Deshalb stellt sich neben der nostalgischen Erinnerung auch ein gelinder Schrecken ein, wenn uns die Serienfiguren stellvertretend das Vergehen der eigenen Zeit vorhalten.

Die Serie, die sich in ihrem wöchentlichen Rhythmus wie ein Taktgeber in das Gefüge unseres Alltags einschmiegt, die jahreszeitlichen Veränderungen getreu mitvollzieht, die Feiertage feiert, wenn auch wir sie feiern, ist längst Teil unseres Alltags: Zwar bietet sie in ihrer Komprimierung des Geschehens laufend etwas Extraordinäres, doch dieses wird eingefaßt von einer scheinbaren Doppelung unserer Realität. Darin besteht, wie wir ahnen, die Funktion der Serie: mediale Teilhabe am fremden Leben, Studium und Test der gebotenen Verhaltensweisen – gerade wenn sie bizarr sind –, Orientierungshilfe fürs richtige Verhalten in den laufenden Modernisierungsprozessen der Gesellschaft. Je größer der Realitätsschein, um so optimaler die Funktionserfüllung. Was ist richtig, was ist falsch? Die „Lindenstraße“ erweist sich als Schule des Lebens.

18.40 Uhr am Sonntag: Zur krummen, aber immer gleichen Zeit, kurz vor Beginn der neuen Woche, bringt die „Lindenstraßen“-Zeit den fiktionalen Wochendurchblick durch das Gesehene in dieser parallelen Welt, die auch im Nachbarhaus und nicht im „Münchner“ Köln-Bocklemünd angesiedelt sein könnte. Sie vermittelt zudem über die bloße lineare Abfolge ihrer Folgen hinweg ein zyklisches Zeitbewußtsein und erzeugt durch die Erzählmuster vom zyklischen Werden und Vergehen den Eindruck des Lebendigen. Das hebt sie ab von anderen Angeboten der Restzeitvernichtungsmaschine Fernsehen, auf die wir uns oft eher zufällig und punktuell einlassen. Wer „Lindenstraße“ sieht weiß, daß er sich in einen televisuellen „Strom des Lebens“ begibt, fiktiv zwar, geballt in seinen Konflikten, aber auch permanent weiterfließend, nach vorn hin nur begrenzt überschaubar.

Die Realitätslust, die die „Lindenstraße“ erzeugt, begründet sich darin, daß in ihr über die Jahre hinweg eine Chronik des Alltäglichen entstanden ist. Die Serie setzt auf das jeweils Zeittypische, nicht jeauf das Neue und Modische. So war der Frisiersalon von Isolde Panowak 1986 mit dem angestaubten Charme der alten Hauben und Plastikstühle schon damals unmodern und wirkte gerade deshalb alltäglich. Dagegen haben es die Daily Soaps schwer: Diese erscheinen immer weniger real, immer nur designt und als ein bloßes Produkt von Werbeversprechen. Unerbittlich demonstrieren die elektronischen und filmischen Bilder das Altern der Serienhelden: Dem permanenten Vergehen halten sie den einmal festgehaltenen physiognomischen Augenblick entgegen. Der Theaterschauspieler Albert Bassermann war um 1913 über das Medium Film so entsetzt, weil es ihm die vergehende Jugend im bewegten Bild dauerhaft vorhielt. Bassermann drehte damals seinen ersten Film. Wir haben uns heute an die Fixierung von fotografiertem „Leben“ gewöhnt. Doch der schmerzhafte Stachel einer Einsicht ist geblieben: Gerade die auf Offenheit hin konzipierten Serien, die nicht das filmische Kunstwerk sein wollen, das einmal „zu Ende“ ist, sondern die (wie im Leben) in ihrem Erzählen unentwegt weitergehen, halten uns in ihrem Anspruch auf Unendlichkeit in besonderer Weise die Endlichkeit unseres Lebens vor.

Irgendwann, wenn die jetzt Lebenden längst nicht mehr sind, werden von den achtziger und neunziger Jahren nur noch die „Lindenstraße“ und die Daily Soaps Zeugnis geben können, weil ihre Bildermengen alle anderen Abbildungen als marginal erscheinen lassen. Der Serien-Bildervorrat ist schon jetzt gigantisch, und bald wird Marie-Luise Marjan, von der Laufzeit der Serienbilder her gesehen, egal, in welchem Alter, die meistfotografierte Frau der deutschen Film- und Fernsehspielgeschichte sein. Eine Ikone der real existierenden Alltäglichkeit.

Prof. Knut Hickethier ist Medienwissenschaftler an der Hamburger Universität