Stalinistische Entnazifizierung im KZ

Opferverbände und Gedenkstättenleitung streiten um das sowjetische Straflager auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald: Waren die Inhaftierten Unschuldige oder Nazis?  ■ Von Anita Kugler

Geht es nach Manfred Wettstein, dann bewerten in Zukunft nicht Historiker die jüngste Geschichte, sondern Staatsanwälte. Der Vorsitzende des Verbandes „Opfer des Stalinimus Thüringen“ erstattete vor ein paar Tagen Anzeige gegen den Direktor der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, wegen Volksverhetzung, Verleumdung und Verunglimpfung Verstorbener. „Uns reichen die Verleumdungen des Altbundesbürgers Knigges jetzt“, schimpft Neubundesbürger Wettstein. Der sich im „Umfeld von subalternenen Kommunisten und reaktivierten Tschekisten“ bewegende Direktor verbreite nichts als „Lügen“, man müsse „eine der letzten roten Zwingburgen Thürigens ausmisten“.

Die „Lügen“, die der Gescholtene 41jährige Historiker und Erziehungswissenschaftler verbreitet, hat dieser sich allerdings nicht aus den Fingern gesogen. Es sind vielmehr erste Ergebnisse eines seit zwei Jahren laufenden Forschungsprojektes der Gedenkstätten Buchenwald und Sachsenhausen sowie der Uni Jena und der Fernuniversität Hagen zum sowjetischen Speziallager Nummer 2, das von 1945 bis 1950 auf dem Gelände des ehemaligen KZ Buchenwald exisitierte.

Die erstmalige Auswertung von russischen Akten sowie die Zeitzeugenberichte von ehemaligen Häftlingen ergebe, schrieb Knigge Ende November in einem offenen Brief an die „Initativgruppe Buchenwald“, daß eine wesentliche Funktion des Speziallagers die der „stalinistischen Entnazifizierung“ gewesen ist. Die Mehrheit der Internierten – vielleicht 60 bis 80 Prozent – seien vor Ende 1945 eingesperrt worden, und zwar als „zivile Funktionsträger des Naziregimes“. Belege dafür: Die Internierten waren überwiegend Männer über 40 Jahren, der Anteil der Frauen betrage vier, der der Jugendlichen fünf Prozent. In Buchenwald hätten sich so gut wie keine SMT-Verurteilte befunden, das heißt Personen, die als politische Gegner der Sowjetisierung der SBZ oder der Zwangsvereinigung SPD/KPD von einem sowjetischen Militärgericht verurteilt worden waren. Daraus ergebe sich, so Knigge, „unabweislich“, daß die Mehrheit der Internierten in „Schuldzusammenhänge verstrickt waren, beziehungsweise Unrecht geduldet und befördert haben“.

Es sind diese aktengesättigten Behauptungen, die Manfred Wettstein zum Gericht treiben, aber damit, so wiederum der Gedenkstättenleiter, „indirekt alle Opferverbände des stalinistischen Unrechts diskreditiert“. Denn Wettstein, kontert Knigge, „hänge sich nur das Mäntelchen eines Opferverbandes um“. Er habe eine „dubiose DDR-Vergangenheit und argumentiere auf dem Niveau des NPD-Mannes Günther Deckert“.

Allerdings, und dies ist ernster zu nehmen als eine mögliche Geschichtsstunde vor Gericht, hat Volkhard Knigge inzwischen auch den Vorsitzenden der „Union der Opferverbände“, und zugleich Vorsitzenden des Häftlingsbeirat im Kuratorium der Gedenkstätte, Gerhard Finn, in Rage gebracht. Finn wurde 1945 als 15jähiger für drei Jahre Buchenwald eingesperrt. Der Begriff „Funktionsträger“ müsse definiert werden, fordert er, „in Buchenwald hätten nur die kleinen Würstchen der NS- Diktatur gesessen, Mitglieder des NS-Kraftfahrerkorps oder auch aus amerikanischer und britischer Gefangenschaft heimgekehrte Soldaten, die die Sowjets unter dem Vorwand der Spionage festnahmen“. Knigge rede einer „Kollektivbeschuldigung“ das Wort. Dennoch, „ich finde nicht die Ergebnisse der Recherchen empörend, denn sie sind nicht neu. Mich empören die Konsequzenen, die er daraus ziehen will.“

Die hatte nämlich der Gedenkstättenleiter in seinem Brief an die „Initativgruppe Buchenwald“ gleich mit angefügt. Knigge will, daß das Dokumentenhaus, das bis 1996 am Rande des NS-KZ-Geländes speziell für die Geschichte des stalinistischen Speziallagers errichtet wird, in seiner architektonischen Gestaltung dem Charakter des Lagers entspechen soll. Speziell wendet er sich gegen den Bau eines Steges, von dem Besucher des Dokumentenhauses einen Blick auf das Gräberfeld der zwischen 1945 und 1950 gestorbenen Internierten werfen können. Dieser Steg trage „deutlich ikonographische Bezüge“ zur Rampe von Auschwitz und, so Knigge, „provoziere ein realivistisches Geschichtsbild“.

Das ist eine „schäbige Unterstellung“, meint wiederum Finn. Ausstellungshalle samt Brücke seien Ergebnis eines Wettbewerbes, dem alle Verantwortlichen zugestimmt hätten und das Knigge jetzt nicht einseitig verändern könne. „Er hätte uns wenigstens vorher informieren müssen.“

Am 12. Dezember wird sich der thüringische Wissenschaftsminister Gerhard Schuchard (SPD) mit dem Streit beschäftigen. Zu einer Anhörung über die Gedenkstättenarchitektur sind Gerhard Finn und Volker Knigge geladen.