Sucht ohne Verschleiß

■ Der Tip für Nachtschwärmer: Schellack-DJ Mario Minelli Von Tim Fiedler

Der nette junge Mann sieht irgendwie so aus, als sei er einer anderen Zeit entsprungen. Ganz sicher trifft dies auf die beiden Plattenspieler zu, die vor ihm stehen. Wenn die Musik einsetzt, ist sofort zu hören, daß beides seinen Grund hat: Mit unverwechselbarem 78 rpm-Geknister im Hintergrund ertönt etwas, das garantiert älter als 30 Jahre ist. Die eigentümliche Magie des Monosounds läßt vor dem inneren Auge einen Begriff auftauchen, der eigentlich eher zu Oma und Opa paßt als zu heißer Musik: Schellacks!

Der nette junge Mann ist Mario Minelli, und „Shellacs only“ ist das wegweisende Motto seines Lemmy Caution Sound Systems. Schellack, das Material, aus dem Schallplatten gemacht wurden, bevor die Welt eine Plastikwelt wurde, ist ein Stoff, der süchtig machen kann. Mario besitzt Hunderte von Schelllackplatten, und er braucht immer mehr. Fast seine ganze Wohnungseinrichtung hat er verkauft, um neues altes Material erwerben zu können.

Dafür ist das Lemmy Caution Sound System inzwischen zu einem absoluten Geheimtip geworden. Ausgehfreudige Menschen sind meist erst überrascht und dann begeistert. Eine Zeitreise durch alle Kontinente und Musikstile verspricht allemal einen besseren Abend als unterhaltungsfreier Maschinenbeat im Blitzlichtgewitter. Mario hat, mit Ausnahme von Klassik und Operette, sämtliche Musikstile der 20er bis 50er Jahre im Repertoire.

Von Schlagern und Tanzmusik der „Roaring twenties“ über Jazz der Epoche, in der die Deutschen lieber der Marschtrommel lauschten, spannt sich der Bogen bis zu frühen Rock'n'Roll-Aufnahmen. Allerfeinster Rhythm & Blues und schräge Countrynummern der 30er bringen auch die härtesten Nichttänzer mindestens zum Mitwippen.

Neben chronischem Geldmangel, Liebe zu den Platten und einem gewissen Sendungsbewußtsein hat Mario noch ein weiteres Motiv, seine Sammlung der Öffentlichkeit zu präsentieren. Es gilt, einen Kontrapunkt zu setzen gegen den eingebauten Verschleiß, der fast alle Produkte unserer Zeit kennzeichnet. Der ausgesprochen trashige Charakter seiner Auftritte erklärt sich also auch von daher und ist absolut beabsichtigt.

Musikwünschen gegenüber ist Mario stets aufgeschlossen, aber die Rolling Stones gibt's auf Schellack nun mal leider nicht. Vielleicht sollte man es lieber mal mit „Mister Fireeyes“ oder „I Want To Break Your Neck Because You Broke My Heart“ versuchen. Aber Vorsicht! Die Texte sind absolut nicht p.c. und das Suchtpotential ist hoch.

Jeden Sonntag im „Komet“, Gerhardstraße 18 (22-4 Uhr); jeden 1. und 3. Freitag im Monat im „Sorgenbrecher“, Hamburger Berg (22-6 Uhr)