Beten kostet nichts

■ Die Bedürftigen, die Guten und der arme Steuereintreiber. Ein Weihnachtsmärchen

Und es begab sich zu der Zeit (im traurigen Monat November war's), da stand das Christfest vor der Türe, da trafen sich die guten Menschen der Stadt, die Sozialdeputation nämlich. Und wie immer schauten sie in das Säcklein, das sie über den Armen und Bedürftigen ausschütten durften. Aber sie schauten blaß, denn das Säcklein war schlaff und leer. Und sie sahen, sie waren ja selber so arm, vor allem arm dran. Nun stand aber, wie gesagt, das Christfest vor der Tür, und die noch ärmeren, die von den milden Gaben der Oberen leben mußten, der Sozialhilfe, die erwarteten wie jedes Jahr 122 Taler mehr für die Adventszeit, damit sie ihren Lieben ein Bäumchen aufstellen, ein Schokolädchen kaufen und Präsente schenken können. Denn so ist's der Brauch in unserem Land. Und deshalb gibt es die Weihnachtsbeihilfe für die Bedürftigen )

Nun waren sie aber betrübt, die Bedürftigen, weil seit drei Jahren hatten sie immer dieselben 122 Taler bekommen, aber ach, die Preise für Bäumchen, Schokolädchen und Präsente waren so viel mehr Siebtel. Und diese Betrübnis der Bedürftigen erreichte die armen guten Menschen und die sagten, weil sie gut waren, das geht so nicht weiter.

Aber: Acht Taler sollten die Armen und Bedürftigen dieses Jahr mehr bekommen, wegen der teuren Schokolädchen usw., hatten sie ausrechnen lassen. Acht Taler! Wo der Armen doch so viele in der Stadt waren! Was das kostet! Und es hob ein großes Jammern und Wehklagen an bei den guten Menschen, viel darüber, wie arm dran sie doch waren und auch ein bißchen über die armen Bedürftigen. Das Geld würden sie nie und nimmer vom großen Steuereintreiber bekommen! Aber vielleicht weniger. Und so einigten sich die Oberen der guten Menschen, die sozialdemokratischen und christlichen, auf drei Taler zusätzlich – lieber ein bißchen gut als gar nicht – und sie beauftragten den Gutsekretär Hoppensack, er solle sofort mit ihrem Vorschlag zum Steuereintreiber Nölle laufen.

Ein paar Tage später bekamen die guten Menschen Nachricht, was denn aus ihrem Vorschlag geworden wäre. Es war schlechte Nachricht. Denn noch ärmer als die guten Menschen und die armen und Bedürftigen schien der große Steuereintreiber zu sein. 150.000 Taler sollte die gute Tat kosten, sagte der, und seine Antwort war ein ganz und gar unweihnachtlichens „kommt nicht in Frage“.

Aber die Bedürftigen können hoffen; mit Gutsekretär Hoppensack, denn der hat sich „fest vorgenommen“, im nächsten Jahr mehr Taler für die Festtage im Säckel zu haben. Doch wenn die Bedürftigen an den großen Steuereintreiber denken, dann sollten sie vor allem eines tun, beten. Kostet ja nichts.

Siehe auch S. 29. J.G.