Anonyme Fleischfresser contra Sauerkrauts

■ Berlin im Jahre 2010: Rot-grüne Regierung erlaubt Fleischkonsum nur noch als Sonntagsbraten. Wütende Proteste und Krawalle zwischen Wurstfans und Vegetariern

Berlin, im Dezember 2010. Nur noch die Veteranen der Alternativbewegung erinnern sich daran, daß es früher der 1. Mai war, der regelmäßig Randale in gewissen Stadtteilen zeitigte. Inzwischen nämlich ist der 1. Dezember zu solch einem Datum geworden. Schuld ist der Reifezyklus des Radieschens und anderer Gemüsesorten.

Wir erinnern uns: Die Große Koalition war im Jahre 2005 auseinandergebrochen, weil der Innen-, Verkehrs- und Frauensenator Dieter Heckelmann (68) von seiner düpierten Senatskollegin Ingrid Stahmer (63) die Herausgabe des Jugendressorts verlangt hatte. Bei Neuwahlen erhielten PDS und Grüne zusammen mehr als 70 Prozent aller Stimmen. Der rot-grüne Senat unter Christian Specht verpflichtete sich, das „Szenario für ein zukunftsfähiges Berlin“ in allen Punkten umzusetzen.

Wider Erwarten stieß das neue Regierungsprogramm auf breite Zustimmung. Die meisten Berliner fanden es schick, in einer autofreien Innenstadt spazierenzugehen, giftfreie Klamotten zu kaufen oder in sonnenenergetischen Häusern zu wohnen. Das vom bündnisgrünen Senator für Volksernährung, Bernd Klöppl, vorgelegte Konzept für ökologisch korrektes Essen rief jedoch heftigen Widerstand hervor.

Auf recyclinggrauen Flugblättern hatte der Nahrungssenator allen Haushalten die Zahlen der Wuppertal Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ vorgehalten: 60 Prozent der hiesigen landwirtschaftlichen Fläche und fast die Hälfte ihrer Erträge werde für die Fleischproduktion benutzt, die aus dem Ausland importierten Futtermittel nicht eingerechnet. Der hiesige Fleischkonsum müsse auf ein Viertel bis ein Fünftel, also auf den Sonntagsbraten reduziert werden, damit alle Menschen auf der Welt ihren Sonntagsbraten bekämen.

Neben dem Rauchen, schrieb der Senator weiter, sei auch der Zuckerkonsum mit sofortiger Wirkung einzustellen: Der Anbau von Zuckerrüben sei erosionsfördernd und nehme Getreide, Gemüse und Obst den Platz weg. Zudem seien die Berliner fürderhin gehalten, nur noch regionale und saisonale Lebensmittel zu konsumieren, um Energie für Transporte und Treibhäuser zu sparen: Apfelsaft statt Apfelsinensaft. Um den Menschen die heimischen Produkte der Wintersaison schmackhaft zu machen, legte der Senator der Wurfsendung selbstentworfene Rezepte für Kohlrouladen oder Sauerkraut mit Sanddornknödeln bei.

Klöppls Knödelkochkunst stieß auf heftigsten Protest. Daß sich analog zu den Anonymen Alkoholikern eine Gruppe Anonyme Fleischfresser bildete, war noch die harmloseste Folge. Der Senator wurde bei jedem öffentlichen Auftritt mit Kraut und Rüben beworfen, die ausländische Presse bespöttelte die Berliner Grünen als „Sauerkrauts“. Demo folgten auf Gegendemo, immer öfter gerieten sich Vegetarier und Wurstfans in die Haare.

Als mit dem 1. Dezember 2006 die radieschen- und tomatenlose Weißkohlzeit anzubrechen drohte, verloren die Beteiligten endgültig die Nerven. Bioläden und Metzgereien gingen wechselweise in Flammen auf. Die Parteibasis der PDS verlangte lautstark die Revision der wurstfeindlichen Beschlüsse, die PDS-Senatoren outeten sich als Mitglieder der Anonymen Fleischfresser. Der Senat geriet an den Rand der Regierungsunfähigkeit, weil seine Mitglieder nicht einmal mehr zu gemeinsamen Arbeitsessen fähig waren und sich gegenseitig Wurst- und Käsebrötchen an den Kopf warfen.

Erst der Multimedia-Zwölfkabel-Internet-Auftritt eines völlig zerknirschten Bernd Klöppl entschärfte die Situation. Es tue ihm sehr leid, daß sein Faltblatt mißverständlich formuliert gewesen sei, entschuldigte er sich vieltausendmal. Selbstverständlich habe er niemandem vorschreiben wollen, was er oder sie esse. Er appelliere jedoch an die Einsichtsfähigkeit aller denkenden Menschen, nicht jeden herumliegenden Hähnchenschenkel anzuknabbern. „Wir beißen uns damit ins eigene Fleisch!“ endete der Senator beschwörend seinen öffentlichen Auftritt.

In Erinnerung an jene schicksalhaften Tage flammt indes alljährlich am 1. Dezember der Klassenkampf zwischen Körnerfressern und Aasfressern wieder auf, und zwischen Kreuzberg und Hohenschönhausen fliegen den staunenden Touristen Currywürste und Kohlköpfe um die Ohren. Ute Scheub (Vegetarierin)