Das Monster als Mensch

Zu zeitlos, um konkret zu sein: Bernhard Schlinks parabelnde Annäherung an eine analphabetische Ex-KZ-Wärterin  ■ Von Peter Michalzik

Die Stärke von Bernhard Schlinks Buch ist sein Plot. Er dreht sich um Hanna Schmitz, die 1944 zur SS ging und als Wärterin in ein Außenlager von Auschwitz kam. Während des im letzten Kriegswinter verordneten Marsches nach Westen ließ sie mit anderen Wärterinnen die Gefangenen, die noch nicht im Schnee umgekommen waren, in einer brennenden Kirche im Stich, obwohl sie die Tore leicht hätten öffnen können.

Der Ich-Erzähler lernt die unerkannt in Heidelberg lebende Hanna einige Jahre später kennen, er ist fünfzehn, sie arbeitet als Straßenbahnschaffnerin. Sie hilft ihm, als er sich einer beginnenden Gelbsucht wegen auf die Straße erbricht. Als er sie besucht, um sich zu bedanken, kommt es zu einer einen Sommer dauernden Liebesbeziehung, die das Leben des Erzählers bestimmt, auch nachdem sie abbricht – und obwohl er zu diesem Zeitpunkt nichts von Hannas Vergangenheit weiß.

Als Jurastudent trifft er die jetzt angeklagte Hanna im Gerichtssaal. Er verfolgt die Verhandlung, irgendwann überfällt ihn wie ein Gedankenblitz das eigentliche Geheimnis von Hannas Leben: Sie kann nicht lesen und schreiben. Die verstockt wirkende Hanna wird verurteilt und kommt lebenslänglich hinter Gitter.

Nach mehreren Jahren beginnt der längst erwachsene Ich-Erzähler ihr von ihm mit Weltliteratur besprochene Kassetten zu schicken. Schon im ersten Sommer ihrer Verliebtheit hatte er ihr immer vorgelesen. Unpersönlich und doch innig lebt die Beziehung im Vorlesen fort.

Die Provokation des Buchs liegt in dem positiven Blickwinkel, aus dem Hanna, ein Mensch, den die Zeitungen damals als Monster bezeichnet hätten, beschrieben wird. Dazu führt der Analphabetismus. Er steht zwar nicht in direktem Zusammenhang mit ihren Verbrechen im Dritten Reich, aber er macht sie selbst zu einem Opfer und gibt zu Spekulationen über die Motivationen Hannas Anlaß. Ihr ganzes Leben war vom Versuch geprägt, ihre Behinderung zu verbergen, das macht sie zu einer ängstlichen, unbewußten Peinigungen der Umwelt hilflos ausgesetzten Person. Auch die Liebesgeschichte dient bei Schlink vor allem dazu, Hanna positiv zeichnen zu können.

Die Schwäche des Buches ist seine parabelnde Zeitlosigkeit. Das Konkrete findet nicht statt. Das Geschehen ist, so darf man vermuten, in den fünfziger Jahren angesiedelt, schweift aber dauernd in philosophische Erwägungen ab. Die kurzen Kapitel enden meist mit allgemeinen Einlassungen über Verstrickung, Schuld und das Leben als solches. Zu einer Aussprache oder Konfrontation kommt es nie.

Was man als Metapher für das Land des Schweigens, in dem wir gegenüber den Taten unserer Väter und Großväter im „Dritten Reich“ noch immer verharren, verstanden werden mag, ist trotzdem auch Vermeidungsstrategie selbst. Ihr überläßt sich Schlink – unverständlich, denn seine Geschichte ist ja ansonsten nicht unraffiniert. Das Buch bekommt davon etwas von dieser melancholischen Tragik, die wie Novembernebel durch die Zeilen wallt.

Bernhard Schlink: „Der Vorleser“. Diogenes Verlag, Zürich,

207 Seiten, 32 DM