■ In Ägypten sind die Islamisten, die größte oppositionelle Kraft, per Wahlbetrug praktisch ausgeschaltet worden
: Algerien am Nil?

Langsam wacht man an den Ufern des Nils auf und reibt sich die Augen. Die Stimmen der ägyptischen Parlamentswahlen sind ausgezählt: Mit 94 Prozent sollen in Zukunft die Vertreter der Regierung und ihr nahestehende unabhängige Kandidaten im Parlament vertreten sein. Die Islamisten, Ägyptens größte oppositionelle politische Kraft, sind in der neuen Legislative praktisch nicht existent. Ein einziger verlorener Islamist sitzt in der neugewählten Volksvertretung. Eine solche Dreistigkeit der regierenden Nationalpartei Husni Mubaraks hatten selbst die größten Schwarzmaler nicht erwartet.

Möglich wurde dieses Ergebnis durch vorher und nachher gleichermaßen gefüllte Wahlurnen sowie durch einen in diesem Ausmaß noch nie dagewesenen Wahlbetrug. Es war das schlechteste Ergebnis der Opposition in der Geschichte der ägyptischen Parlamentswahlen seit 1984. Nur 14 ihrer Vertreter haben es mit Müh und Not geschafft. Alle auch von der Regierung aufgebauten Erwartungen über die „historisch einmalig demokratischen Wahlen“ zerfielen innerhalb weniger Stunden zu Staub.

Nun sind faire Parlamentswahlen nicht gerade das Gütesiegel der arabischen Welt. Aber Wahlen von oben zu kontrollieren, muß nicht notwendigerweise heißen, die gesamte Opposition praktisch kaltzustellen. Die Folgen der ägyptischen Parlamentswahlen für die Zukunft des Landes und womöglich die ganze Region Nahost können nur erahnt werden.

Es hat das Land einen großen Schritt weiter in Richtung des algerischen Alptraumszenarios geführt. Entscheidend ist dabei, welche Rolle der islamistischen Opposition im politischen System des Landes zugewiesen wird. Obwohl es vor allem die militante radikale Minderheit der ägyptischen Islamisten ist, die in hiesigen Medien Schlagzeilen macht, hat sich deren Mehrheit in den letzten 15 Jahren für den „Marsch durch die Institutionen“ entschieden. Anstelle von Autobomben, Angriffen auf Touristen oder Attentaten auf Politiker wollten sie reformistisch auf die staatlichen Institutionen Einfluß nehmen. Sie ließen sich in die wenigen demokratischen Institutionen des Landes wählen, wie etwa die Berufsverbände, und betrieben in den letzten Monaten einen friedlichen Wahlkampf. Diese Strategie kann spätestens seit letzter Woche getrost als gescheitert angesehen werden. Islamistische Vertreter in den Berufsverbänden werden seit Wochen von obskuren Militärgerichten zu Zuchthausstrafen abgeurteilt. Ihre Parlamentskandidaten konnten am Wahltag nur hilfslos zusehen, wie die Horden der regierenden Partei unter den Augen der Polizei die Urnen nach Gutdünken füllten.

Diese Erfahrung läßt für viele, vor allem jüngere Kader der Islamisten nur eine Schlußfolgerung zu, die Muntaser Zayat, einer ihrer prominenten Anwälte, in einen Satz faßt: „Das Ganze beweist, daß diejenigen, die für eine militante und gewalttätige Opposition plädieren, gewonnen haben.“ Wo alle Ventile verstopft sind, führt der Dampf früher oder später zur Explosion. Im zweiten Wahlgang hat selbst die Regierung in Kairo diese Gefahr erkannt. Sie versuchte in mehreren Fällen, zu retten, was zu retten ist, und das Ergebnis zugunsten einiger Oppositioneller zu manipulieren. In letzter Minute hatte sie verstanden, daß das beste Bollwerk gegen eine islamistische, sich immer mehr radikalisierende Opposition die Stärkung der säkularen Opposition ist.

Um eine blutige Auseinandersetzung oder womöglich eine militante islamistische Machtübernahme zu verhindern, gilt es, zwei Grundregeln zu beachten. Den Islamisten als real existierende politische Kraft muß eine Rolle innerhalb des politischen Systems zugewiesen werden, und der säkularen Opposition muß auf die Beine geholfen werden. Das gilt umso mehr, als die Regierung in Kairo keinerlei iedologisches Konzept besitzt, um der Islamisierung entgegenzutreten. Nur Parteien, wie etwa die noch relativ populären panarabischen Nasseristen, könnten als ideologisches Gegengewicht zur islamistischen „Islam ist die Lösung“-Stimmung auftreten. Die 14 einsamen Rufer in der Wüste der säkularen Opposition im neuen Parlament können dieser Rolle kaum gerecht werden.

Daß die 94 Prozent für die Regierung beileibe nicht ihr Traumergebnis darstellen, zeigt einmal mehr die totale Ineffektivität des Staatsapparats. Wer seine Bürger in allen Dienstleistungen hängen läßt, wer selbst im Falle eines Erdbebens wie vor vier Jahren oder bei den Flutkatastrophen vor einem Jahr keine Nothilfe für die Opfer zustande bringt, von dem kann auch nicht erwartet werden, die politische Landschaft zu reformieren. Die Regierung kann nicht einmal mehr eine von oben kontrollierte Wahl organisieren, in der sich auch die Opposition einen Teil ihres Kuchens sichert.

Während sich Algerien mühevoll Stück für Stück aus dem Schlamassel zieht und erneut eine moderate islamistische Opposition zuläßt, ist Ägypten nun seit letzter Woche tiefer im Schlamassel versunken. Es sind nahezu die gleichen Fehler, die damals in Algier begangen wurden und in Kairo heute wiederholt werden. Die Islamisten aus dem politischen System als de facto größte Oppositionskraft ausschließen zu wollen, kann nur in einem blutigen Drama enden. Daß es auch anders geht, zeigen die türkischen Parlamentswahlen am nächsten Wochenende.

Der Westen hat aus Algerien nichts gelernt. Der ägyptische Wahlbetrug lief in der westlichen Presse unter Vermischtes, und die Regierungen in Europa und den USA hüllen sich in Schweigen. Nur zaghaft regt sich hier und da pro forma ein leiser Protest. Man stelle sich vor, dasselbe Ausmaß an Betrug würde bei fiktiven Parlamentswahlen im islamistischen Iran stattfinden. Es wäre eine Story für die Titelseite. Der Ruf nach einem Embargo wäre das klingende Nachspiel.

Derweil könnte sich Algerien nur als ein harmloses Vorspiel erweisen für das, was uns bevorsteht, wenn Ägypten weiterhin mit Siebenmeilenstiefeln ins Verderben rennt. Ägypten ist nicht eine unbedeutende Bananenrepublik. Das Land am Nil ist das mit Abstand bevölkerungsreichste arabische Land. Was in Kairo gesagt, geschrieben und debattiert wird, findet von Bagdad bis Marakesch ein offenes Ohr. Im Nahostfriedensprozeß spielt der erste arabische Staat, der einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnet hat, eine entscheidende strategische Rolle. Kurzum, die Zukunft Ägyptens formt die Zukunft der gesamten Region. Karim El-Gawhary, Kairo