Der Wolf hat Kreide gefressen

Der Rechtsextremist Schirinowski schlägt im Wahlkampf sanftere Töne an. Er weiß, warum. Die Konkurrenz drückt – von rechts und links  ■ Aus Puschkino Barbara Kerneck

Der breite, lederbejackte Rücken, der sich am Häuschen der Straßenwacht 30 Kilometer vor Moskau aus einem von zwei schwarzen Mercedessen schält, muß einfach Wladimir Wolfowitsch Schirinowski gehören. Hier hatte sein Stab mir und noch zwei westlichen JournalistInnen geraten, auf den russichen „Führer“ zu warten, kurz vor einem seiner heutigen Ziele, dem nahe gelegenen halbprovinziellen Städtchen Puschkino. Niemand spricht uns an. Dennoch folgen wir den Wagen. Gewißheit gibt die außerordentliche Gepflegtheit der Fettfalte in diesem Nacken, der shamponierte Glanz jedes einzelnen Härchens. So sieht in Rußland nur ein Mann aus, der über Geld verfügt. Das Wochenblatt Argumenty und Fakty behaupet, Schirinowskis sogenannte „Liberaldemokratische Partei“ (LDPR) sei die reichste im Lande und investiere von allen am meisten Geld in ihren Wahlkampf, umgerechnet etwa dreieinhalb Millionen Mark.

Das Lichtspielhaus von Puschkino trägt den Namen „Sieg“, aber der fällt hier ziemlich kühl aus. Bei minus sieben Grad ist der riesige Saal für tausend Leute nicht beheizt und nur etwa zu einem Drittel besetzt, mehrheitlich von RentnerInnen. Auch ein paar Jünglinge sind da – natürlich in Lederjacken. Wladimir Wolfowitsch Schirinowski verkriecht sich frierend ins Schaffellfutter der seinen. Offensichtlich ist ihm übel. Als er den Mund auftut, begreift man, warum: der Führer hat Kreide gefressen, und zwar kiloweise. Heute gibt es keine deftigen Sprüche über die Qualität der eigenen Pisse (O-Ton Schirinowski: „Ich bin so rein, meine Pisse kann man trinken“), keine Erschießungsankündigungen und Verheißungen von Lagerhaft für Andersdenkende. Nicht einmal mit ein bißchen Napalm droht Schirinowski den TschetschenInnen – wie noch vor Tagen im russischen Rundfunk. Statt dessen hält er eine Vorlesung über Abstimmungsmöglichkeiten und -prozeduren. „Auf dem Wahlzettel werdet Ihr 42 Parteien und Blöcke vorfinden“, beginnt er. „In Wirklichkeit aber existieren in Rußland nur zwei Parteien: die LDPR und die Kommunisten.“ Zielsicher hat er damit seine möglichen – und sehr notwendigen – Bündnispartner markiert. Einer der wenigen beständigen Grundsätze Schirinowskis trennt ihn aber von den Kommunisten: „Eine Wiederbelebung der UdSSR ist unmöglich, Rußland sollte zwar in seinen alten Grenzen auferstehen, aber sich nicht mehr in diverse Republiken nach nationalem Vorzeichen spalten.“

Wladimir Wolfowitschs Wahlchancen werden von Meinungsforschern skeptisch beurteilt, ein großer Teil seiner ehemaligen Klientel hat einen Linksruck vollzogen. Auf der rechten Flanke sind ihm ernsthafte Konkurrenten erwachsen, vor allem der „Kongreß der russischen Gemeinden“ mit General Lebed an der Spitze. Der Führer hat allen Grund, seine Kräfte ökonomisch einzusetzen, Und er tut dies gekonnt, sogar die eigene Müdigkeit weiß er zu nutzen, indem er sich väterlich mit der Müdigkeit des Publikums auf gleiche Welle schaltet: „Ich bin gestern abend um zwölf im russischen Rundfunk aufgetreten, als ihr schon schlieft. Und heute morgen um sieben, als ihr noch schlieft. Aber ich verstehe euch, siebzig Jahre Sowjetmacht haben euch ausgelaugt. Die Reformen der Demokraten haben euch ermüdet. Euch ist kalt im Leben, kalt in diesem Kino. Ihr hattet Monate Zeit, um euch auf die Wahlen vorzubereiten, aber aufwachen werdet ihr ratlos – eine halbe Stunde vor der Stimmabgabe.“

Auf Zettelchen gekritzelt, werden Fragen zur Bühne gereicht. Unsere Rechnung, daß sich Wladimir Wolfowisch nur die angenehmsten aussuchen werde, geht nicht auf. „Kürzlich schrieb die Presse, daß Sie Ihr Geld in der Stadt Elektrogorsk von kriminellen Banden beziehen“, lautet eine Frage. Da kommt plötzlich Leben in den Wolf: „Das sind die üblichen Wahlkampfverleumdungen“, krächzt er. „Zu den Elektrogorsker Wählern unterhale ich dieselben Beziehungen wie zu euch. Kann ich ausschließen, daß sich unter euch irgendwelche Kriminelle befinden? Natürlich nicht. Muß ich alle Kriminellen ächten? Natürlich nicht. Selbstverständlich habe ich als Politiker auch das Recht, Menschen im Gefängnis zu besuchen.“ Auf die Frage nach seiner Hauptkonkurrenz, dem „Kongreß der russischen Gemeinden“, schnarrt er: „Das ist keine Partei. Wozu braucht man irgendwelche ,Gemeinden‘, wenn man einen russischen Staat hat?“ Lebed sei ein Wendehals, der bisher alle Bündnispartner verraten habe.

Nicht das Programm sei wichtig, sondern die persönlichen Qualitäten des Führers, versichern einhellig alle von mir befragten BesucherInnen der Veranstaltung. Nur eine Frage bleibt offen: Wenn die LDPR wirklich so reich ist, warum hat sie nicht das Kino geheizt?