„Die war doch hysterisch“

■ Vergewaltigung in der Entzugsklinik: Acht Monate auf Bewährung für vorbestraften Täter / Beziehungstat: Er kannte sein Opfer zwei Wochen

Gestern urteilte die Große Strafkammer endlich über einen Fall, der fast eineinhalb Jahre zurückliegt. Eine Vergewaltigung in der Entziehungsklinik Sebaldsbrück. „Die Klinik wurde damals zum Stadtgespräch“, erinnerte sich gestern vor Gericht die Stationsärztin. Die Ärztin hatte dem Opfer – einer heute 54jährigen Frau – damals „Hysterie“ bescheinigt, und ihr nicht geglaubt.

Anfang Mai 1994 machte der heutzutage 29jährige Kai H. eine Entziehungskur in Sebaldsbrück. Wegen mehrfachen Autodiebstahls und Fahren unter Alkohol verbüßte Kai H. eine Haftstrafe. Die Entziehungskur war Teil seiner Strafe, die zum Schluß auf Bewährung ausgesetzt wurde. Auf der gemischten Station 37 in Sebaldsbrück lernte Kai H. die Mitpatientin Rosemarie S. kennen.

Sie habe ein freundschaftliches, gar mütterliches Verhältnis zu Kai H. gehabt, sagte sie gestern vor Gericht. Die sie Beziehungsprobleme gehabt habe, habe sie sich freiwillig in die Klinik begeben. Nach einem Alkoholentzug vor 20 Jahren und einer therapierten Tablettensucht vor vier Jahren, hatte Rosemarie S. Angst, einen Rückfall zu haben. Nicht im Traum habe sie an Beischlaf gedacht, sagte sie dem Gericht.

Doch Kai H. glaubte ihr weder im Mai 1994 noch gestern auf der Anklagebank. Verliebt sei er gewesen, gestand er dem Richter, und fabulierte von vorhergehenden Zärtlichkeiten auf dem Zimmer oder im Fahrstuhl. Seine Version des Tatherganges hat der Mann mit Ziegenbart und Zopf vorgeschrieben. Jedes Wort liest er mühsam vom Blatt ab. In der anschließenden Einzelbefragung phantasiert er weitere sexuelle Handlungen mit der wesentlich älteren Rosemarie S.

Dann in der Nacht im Mai, nachdem um Mitternacht die Station zur Ruhe gekommen war, habe er den „Zeitpunkt gekommen gefühlt, miteinander zu schlafen“. In der Teeküche auf dem Fußboden vergewaltigt er die Frau. Er glaubt noch heute, daß er „ein Liebesverhältnis“ gehabt hat. Ein „Nein“ habe er von Rosemarie S. nicht gehört, auch habe er keine Gegenwehr gespürt.

Rosemarie S. ist nach der Tat verstört und schweigt gegenüber ÄrztInnen und PatientInnen. Als sie von der Vergewaltigung erzählt, versuchen Stationspersonal und Klinikleitung abzuwiegeln. Sie sprechen mit Kai H. und Rosemarie S. Es wird zur Kenntnis genommen, daß „Rosemarie S. sich vergewaltigt fühlt und Kai H. sich zu unrecht beschuldigt.“

Die Klinik zieht ihre eigenen Schritte: Sie verlegt die Frau auf eine andere Station. Dort wird sie wieder von einem Patienten, „der Schwierigkeiten hat, seine Grenzen einzuhalten“ (Stationsärztin) sexuell belästigt. Doch diesmal wehrt sich Rosemarie S. deutlicher. Das Stationsteam lobt sie: Sie habe „gelernt hat, deutlich ihre Grenzen aufzuzeigen.“ Kai H. zu verlegen, erläuterte die Stationsärztin vor Gericht, sei schwieriger gewesen, weil er eine gerichtliche Therapieauflage hatte. Nur deshalb sei die Frau verlegt worden, nicht zur Strafe.

Über Gruppen, die die PatientInnen besuchen, wurde die Vergewaltigung außerhalb der Klinik bekannt. Kai H. brüstete sich zudem mit seiner Potenz und den Geschehnissen, die er ausschmückte. Rosemarie S. wurde angeboten, die Klinik zu wechseln. Nachdem die Straftat unter dem Anstaltsdach nicht mehr zu vertuschen war, erstattete die Klinikleitung Strafanzeige gegen Kai H .

Die Staatsanwältin forderte, Kai H. wegen Vergewaltigung in einem schweren Fall zu verurteilen. Weitere drei Jahre sollte er hinter Gitter. Der Richter blieb mit einer neuen Strafe von acht Monaten weit darunter: Mit den alten Urteilen hat Kai H. drei Jahre auf Bewährung bekommen. Schließlich sei es eine Beziehungstat gewesen: Täter und Opfer zwei Wochen lang zusammen auf einer Station waren. ab