Diese schmerzliche Distanz-Nähe

Abschied vom Gedenken: Peter Reichel hat ein Buch über die „Politik der Erinnerung“ geschrieben  ■ Von Micha Brumlik

Bisweilen, nicht immer, können Fehlleistungen erstaunliche Aufschlüsse vermitteln. Wenn sich in dem neuen Buch des Hamburger Politikwissenschaftlers Peter Reichel, dem wir bereits ein vorzügliches Werk zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus verdanken, gleich zu Anfang der Druckfehler „morderne Erinnerungskultur“ findet, ist damit in der Nußschale eine Dialektik angesprochen, die die politische Kultur des nachnationalsozialistischen Deutschland wie keine andere bewegt hat und von der auch sein eigenes Buch zeugt.

Trotz der sich verschärfenden Debatte um das geplante Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, trotz des fortdauernden Streits über die Umgestaltung der ostdeutschen KZ-Gedenkstätten verhält es sich mit der gedenkpolitischen Debatte wie mit anderen politischen oder kulturellen Entwicklungen. Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung. In dem Augenblick, in dem die ersten Enzyklopädien, Lexika und Gesamtdarstellungen erscheinen, haben die Konflikte, Leidenschaften und Themen, denen die Darstellungen gelten, ihre Durchschlagskraft verloren, sind sie Geschichte geworden.

Das Erscheinen von Peter Reichels „Politik mit der Erinnerung“ zeigt in diesem Sinne das Ende einer Epoche an. All die Schlagworte – von der „Unfähigkeit zu trauern“ über jenes „Geheimnis der Erlösung“, das da „Erinnerung“ heiße, bis zu dem „dunklen Loch des Verstehens – Auschwitz“ – sind schon Vergangenheit. Reichels beinahe umfassender Überblick über die von ihm inspizierte Landschaft stellt sich so als ein Buch des Abschieds, als ein Buch auf der Grenze dar. Methodisch diszipliniert, sozialwissenschaftlich aufgeklärt und in kluger Bescheidung der eigenen Möglichkeiten – Reichel verzichtet bewußt auf eine ästhetische Kritik der von ihm dargestellten Monumente – gewinnt der Autor Distanz zu einer Thematik, die ihn gleichwohl selbst umtreibt. Diese Thematik ist keine andere als die der Pietät, als der Frage, wie sich die deutsche Nation zu jenen Abermillionen Toten verhalten soll, zu jenen Abermillionen Ermordeten und zahllosen Tätern, Mitläufern und Gleichgültigen, die dem NS als der unmenschlichsten Epoche des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Signatur gegeben haben. Ist dieser Toten gleichermaßen zu gedenken, sind sie noch in Schuldige und Unschuldige zu unterteilen, haben deutsche Soldaten ihre Ehre verspielt, indem sie am Weltanschauungskrieg der Nationalsozialisten in der Regel willig, brutal und auf allen Ebenen teilhatten?

Die politische Tradition, in der die Bundesrepublik Deutschland offiziell steht – die Tradition eines naturrechtlich gelesenen Grundgesetzes – geht davon aus, daß auch Personen, die sich in unvorstellbarer Weise gegen Moral und Menschlichkeit vergangen haben beziehungsweise solchen Menschen, die im definierten Sinne gar keine Personen sind, Respekt entgegenzubringen, ihre Würde zu schützen sei. Die Pietätspflicht gegenüber Toten können wir in genau diesem Sinne verstehen – die Anerkennung der moralischen Gemeinschaft, daß ihre Existenz als Person an und für sich gut und richtig war, wird bewahrt, unabhängig davon, was sich eine solche Personen hat zuschulden kommen lassen oder worum sich eine solche Person ansonsten verdient gemacht hat. Da aber verstorbene Personen aller Handlungsmöglichkeiten, auf der Wahrung des Respekts an ihnen zu bestehen, ermangeln, geht diese Pflicht an die moralische Gemeinschaft, der sie angehörten, über. Wohlgemerkt – es geht nicht um Ehre oder Auszeichnung, sondern lediglich um die Wahrung des minimalen Respekts – die moralische Gemeinschaft gibt mit ihrer Wahrung der Totenruhe lediglich zu verstehen, daß sie nicht nur in der Gegenwart besteht, sondern sich auch in die Vergangenheit erstreckt.

Diese vermeintlich abstrakten Fragen sind – das zeigt Reichels Buch in überwältigender Anschaulichkeit – auch in der Gegenwart, zumal in der deutschen Gegenwart von mehr als fünfzig Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und fünfzig Jahre nach dem Holocaust, von besonderer Bedeutung. Die Auseinandersetzungen sowohl um die Gestaltung des geplanten Denkmals für die ermordeten Juden in Berlin als auch die Auseinandersetzungen um die Neue Wache Unter den Linden beweisen, daß die Frage, wem unsere politische Gemeinschaft welchen Respekt wie einräumen will, nach wie vor aktuell ist und – womöglich und paradoxerweise – mit wachsendem Abstand zu den Ereignissen auch immer aktueller wird.

So traktiert das Buch grundsätzlich und in vielfältigen, überzeugenden Beispielen das anfangs benannte zentrale Paradox deutscher Erinnerungsbemühungen: „Erinnerung und Spurenauslöschung gingen und gehen – so der Autor auf den Spuren Nietzsches – immer wieder Hand in Hand.“

Dieser Paradoxie geht Reichel in einer überraschend vielfältigen, zerklüfteten und unübersichtlichen Gedenklandschaft nach, die Kriegsgräber ebenso aufweist wie zu Gedenkstätten umgewandelte ehemalige Konzentrationslager; die Versuche zu ästhetischen Formen, die den Mord an Menschen in einer Ästhetik des Verschwindens andeuten, ebenso umfaßt wie umfangreiche Chronologien jener Skandale und Zumutungen, an die wir uns inzwischen gewöhnt haben: Bitburg, der Frankfurter Börneplatz und eben zuletzt die Neue Wache in Berlin. Reichel hat bei seiner Expedition durch diese Gedenklandschaft fünf Schneisen geschlagen: Nach einer Darstellung neuerer Überlegungen zu einer sozialwissenschaftlichen Theorie des kollektiven Gedächtnisses untersucht er Gestaltungsversuche in deutschen Städten, um sich dann ehemaligen Konzentrationslagern zuzuwenden. Schließlich gilt ein ausführlicher Abschnitt dem vereinigten Berlin, das wie keine andere Stadt eine Erinnerungslandschaft im Sinne von Maurice Halbwachs darstellt, um endlich in eine Erörterung der Problematik von Gedenktagen zu münden.

Die Landschaft, durch die Reichel seine Leser als gebildeter Cicerone und vorzüglich informierter Reiseleiter führt, wirkt eigentümlich vertraut, wenngleich die Aufmerksamkeit da und dort auf neue, bisher unentdeckte Ecken fällt, etwa auf den Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg, wo sich offensichtlich das am besten erhaltene Ensemble von NS-Symbolik auf einem deutschen Friedhof findet, oder nach Prora auf Rügen, wo die Überreste nationalsozialistischer Sozialpolitik in der „Kraft durch Freude“-Anlage zu besichtigen sind. Bisweilen verschieben sich die Gewichte: So genau und ausführlich die Geschichte der „Neuen Wache“ von Schinkel bis Helmut Kohl erzählt wird, so kurz gerät die Analyse der Gestaltung von Buchenwald und der eigentümlichen antifaschistischen Gestaltungswut der DDR.

Doch ist auch Reichel, mit dem Instrumentarium des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus ebenso gerüstet wie mit dem Willen zur distanziert objektiven Analyse eines „ästhetisch-politischen Handlungsfeldes“ begabt, letztlich nicht frei von berechtigtem moralischen Pathos. Spätestens, wenn es um die normativen Aspekte des Erinnerns in Deutschland geht, um den unheilbaren Riß zwischen dem Eingedenken der Opfer und der Erinnerung an die Täter, wird der Analytiker zum engagierten Teilnehmer: „Diese Differenz, diese Grenze, diese schmerzliche, immer wieder irritierende Distanz-Nähe besteht noch zwischen uns heutigen Deutschen, die wir doch auch immer Nachkommen des nationalsozialistischen Deutschland sind, und den Nachkommen der Opfer. Über diese Grenze kommen wir nicht hinweg ...“

Belehrt, erinnert und gleichwohl ratlos schließt man den Band. Die genaue Vermessung der Gedenklandschaft bleibt nämlich trotz immer wieder aufbrechender Empörung, die den Autor und mit ihm wohl seine Leser bewegt, letztlich ohne Ergebnis, aber auch ohne Verstörung. Das Buch auf der Grenze ist nämlich einerseits selbst ein Teil jener Kultur, die es beschreibt, andererseits schon Ausdruck eines Zeitabschnitts, für den Vernichtungslager und Krieg nur noch Vergangenheit sind. Daran gemessen läßt die Untersuchung denn doch jene Kälte vermissen, die wirkliche Aufklärung über die Interessen verschaffen könnte, die das „ästhetisch-politische Handlungsfeld“ in fünf Jahrzehnten deutscher Politik geformt haben. Gewiß: Der Politikwissenschaftler reißt kommunalpolitische, kommerzielle und finanzielle Rahmenbedingungen der Gründung, Errichtung und Vernachlässigung von Gedenkstätten an, die Rolle der politischen Parteien wird auch immer wieder erwähnt, aber: Für detaillierte lokalpolitische Analysen, für eine quasi religionssoziologische Untersuchung der moralischen und weltanschaulichen Motive der je beteiligten Akteure, für eine Diagnose der ideologischen Strategien der politischen Parteien in diesem Bereich ist Reichel noch zu sehr Zeitgenosse.

Gleichwohl: Die „Politik mit der Erinnerung“ wird noch für lange Jahre das Standardwerk zur deutschen Gedenkpolitik bleiben, jede künftige Einzeluntersuchung wird auf dieser Grundlage aufzubauen haben. Mit Reichels neuem Buch ist der zeitgeschichtlichen Forschung zum Nachkriegsdeutschland eine neue Disziplin erschlossen worden.

Peter Reichel: „Politik mit der Erinnerung – Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit“, Hanser München 1995, 387 Seiten, 49,80 DM