"In dieser Zeit wurde viel geheult"

■ "Man mußte sich unbedingt zur Wehr setzen, um nicht in Selbstmitleid und Resignation abzurutschen". Gespräch mit einer türkischen Arbeitsmigrantin der ersten Stunde

Idil Lacin siedelte im März 1962 von Istanbul nach München über. Nach dem Abitur studierte sie zunächst einige Semester Theater und Gesang am Istanbuler Konservatorium und arbeitete vor ihrer Auswanderung in der Datenverarbeitung. Bei Siemens München begann sie als Bandarbeiterin, wurde aber schon bald als Dolmetscherin bei Siemens, Telefunken und Krone beschäftigt. Heute arbeitet sie in der Kreuzberger Kiezschule als Sozialpädagogin.

taz: Was war Ihre Motivation, aus Istanbul wegzugehen?

Idil Lacin: Ich wollte studieren, allerdings auf eigene Kosten, unabhängig von der Familie. Es war wohl der Drang, eigene Fähigkeiten und Grenzen kennenzulernen, den wohlbehüteten Raum zu verlassen. Da kam das am 30. Oktober 1961 abgeschlossene Anwerbeabkommen gerade recht. Im März 62 kam ich nach dreitägiger Eisenbahnfahrt in München an.

Wie sah der Empfang aus?

Die Siemensvertreter hielten eine kurze Begrüßungsansprache und händigten uns die Legitimationskarten aus. Anschließend wurden die Regeln für das Wohnheim durchgesprochen.

Welche Regeln?

Nun, daß wir nicht in einem Einzelzimmer, sondern in einem Mehrbettzimmer mit zwei, drei anderen Frauen wohnen werden. Sie erzählten uns, daß es eine Aufsicht gibt und man sich an bestimmte Ausgehzeiten zu halten hat, nicht laut sein darf und Wohngelder vom Lohn abgezogen werden. Bereits am nächsten Tag begann die Arbeit im Betrieb.

Was waren Ihre ersten Eindrücke in München?

Ich habe gezweifelt, ob ich deutsch spreche oder ob die Münchener eine andere Sprache sprechen. Das Bayerische hat mich sehr verunsichert. Die Menschen wirkten sowohl von ihrer Sprache als auch von ihren Umgangsformen her sehr, sehr grob auf mich. Sie waren bäuerlich, ganz anders als die Istanbuler.

Wie war das Verhältnis zwischen den aus der Türkei angeworbenen Männern und Frauen?

Einige der Männer glaubten, uns beschützen zu müssen.

Das hat Ihnen gefallen?

Von meiner Seite gab es da schon Widerstände, ich wollte nicht beschützt werden. Aber aus den Kontakten entstanden natürlich auch Beziehungen.

Wie lange wollten Sie in Deutschland bleiben?

Nach einem halben Jahr war ich bereit, meine Ziele, die ich vorher hatte, umzuschmeißen. Der Grund waren eine Reihe häßlicher Erlebnisse. An Lokalen gingen Zettel: Hier kommen keine Hunde und Türken rein. Und als ein Freund aus Norddeutschland als „Saupreiß“ beschimpft und zusammengeschlagen wurde, hatte ich genug.

Ein Grund nach Deutschland zu kommen waren Schwierigkeiten, mit dem Leben in der Türkei zurechtzukommen. Ich sagte zu meiner Mutter: „Ich werde nach Europa gehen, wo die Menschen zivilisierter sind, wo mehr Toleranz herrscht. Ich kann das hier nicht mehr aushalten.“

Aber Sie sind hier geblieben. Weshalb?

Ich hatte mir ein riesengroßes Radio gekauft, das ich im ersten Urlaub als Geschenk mit in die Türkei brachte. Das Radio hat mich dazu gezwungen, trotz großen Heimwehs zu bleiben, um die Raten abzuzahlen. Außerdem hatte ich inzwischen meinen Ex- Mann kennengelernt, der mir einen Heiratsantrag machte. Ich habe mir gesagt: Der Junge hat seinen Lebensunterhalt, der kann eine Familie ernähren und Verantwortung übernehmen. Warum nicht? Ende 1963 zogen wir nach Berlin, weil wir unser Eigenleben wollten. Wir wollten irgendwohin gehen, wo weniger von unseren Landsleuten lebten als in München.

Und wie erging es Ihnen in Berlin?

Ich habe mich als Dolmetscherin von Siemens München nach Siemens Berlin versetzen lassen. Aber ich konnte noch nicht in dem Job arbeiten, weil die noch gar keine türkischen Arbeiter hatten. Also habe ich in der Feinmechanik im Röhrenwerk angefangen.

Waren die Berliner aufgeschlossener als die Münchner?

Nein. Ich sprach ja inzwischen fließend bayerisch, das stand mir als Türkin allerdings nicht zu. Ich wurde ständig zurechtgebogen, was ich falsch sagte. Also lernte ich berlinerisch. Diese Distanz innerhalb Deutschlands empfand ich als ziemlich schlimm. Das war eine doppelte Fremdheit. Das waren für mich Herausforderungen, zu sagen: Leute, ihr werdet mich akzeptieren, so, wie ich spreche und was ich bin. Man mußte sich unbedingt zur Wehr setzen, um nicht in Selbstmitleid und Resignation abzurutschen.

Wie haben Sie sich zur Wehr gesetzt?

Ungefähr 1965 gab es die ersten Ansätze zur Gründung eines türkischen Vereins. Die politische Arbeit hat mir sehr viel Selbstbewußtsein gegeben.

Mit was hat sich diese Organisation auseinandergesetzt?

Zunächst ging es um die Forderung ,Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‘.

Haben Sie weniger bekommen als die deutschen Kolleginnen?

Das System war so: Kaum war man als Gastarbeiterin an einer Maschine eingearbeitet, wurde man als Springerin umgesetzt. So kam man niemals auf das gleiche Geld wie die deutschen Arbeiterinnen.

Wie hat das Alltagsleben der Migrantinnen in Berlin ausgesehen?

Die Leute sind ohne jegliche Vorbereitung hierhergekommen. Sie wurden von Anfang an mit ihren Problemen allein gelassen. Viele der Frauen waren verheiratet, hatten Kinder in der Türkei. Die meisten von ihnen waren sehr traurig. In diesen Jahren wurde viel geheult. Das war wirklich ziemlich traurig. Für die gab es nur ein Ziel: möglichst schnell viel sparen und zurück. Daher war es undenkbar, daß sie sich geöffnet und Kontakte geknüpft hätten. Aber in diesen Jahren zeigte sich, daß es auch mit den Ersparnissen keine Möglichkeiten gibt, eine neue Existenz in der Türkei aufzubauen. Die Rückkehrwünsche wurden schwächer, und es gab Versuche, erst die Männer, dann die Kinder nachzuholen.

Mit der psychischen Notsituation der Menschen wurde viel Mißbrauch getrieben. Sie mußten Schmiergelder an Dolmetscher und einflußreiche Leute in den Betrieben bezahlen.

Die Münchner haben Sie als grob erlebt. Wie die Berliner?

Kalt und distanziert. Gegenüber den Fremden waren die ziemlich reserviert.

Hatten die Angst?

Mag sein. Das kann Angst oder Verunsicherung gewesen sein. Die Berliner waren in sich verschlossene Menschen – ohne Toleranz und Herzlichkeit.

Und heute?

Da gibt es doch einen sehr großen Unterschied. Es sind ja nicht nur die Türken, die die Stadt bunter und lebendiger gemacht haben, sondern auch die ganzen jungen Menschen, die mit der Berlinförderung aus Westdeutschland angeworben wurden. Da ist eine bunte Mischung in der Stadt entstanden. Ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hat sich die Stadt sehr verändert.

Ein Beispiel bitte ...

Der 1. Mai. Ich kann mich gut erinnern, als Willy Brandt erstmals mit einer roten Nelke den Tauentzien runterlief. Das hab ich mit Bewunderung verfolgt. Bis dahin hatte der DGB den 1. Mai in Veranstaltungshallen gefeiert. Plötzlich waren das Massendemonstrationen, die den neuen Charakter der Stadt ausdrückten. Die Jahre 1965, 1968 und 1970, das war eine riesige und rasche Entwicklung.

Da wären wir bei der Studentenbewegung. Wie wirkte die auf die Migrantinnen?

Wir waren zwar keine Studentinnen, haben aber bei den Demos und allen möglichen Aktivitäten mitgemacht. Unter den Studenten gab es eine ganz wichtige Solidarität mit uns. Ohne diese wäre vieles, was in der Türkei los war, in Deutschland nicht an die Öffentlichkeit gekommen. Das Gespräch führte Eberhard

Seidel-Pielen