„Pionierinnen“ im fremden Land

Viele der jungen Türkinnen, die in den sechziger und siebziger Jahren ihren Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder geleistet haben, sind heute gesundheitlich schwer angeschlagen  ■ Von Tülay Çinar

Die zunächst vorwiegend aus Männern bestehende „Gastarbeitergesellschaft“ der frühen sechziger und siebziger Jahre hat sich im Laufe der Zeit zu einer heterogenen Gesellschaft mit einem fast gleich großen Frauenanteil gewandelt. Diese Entwicklung zeigt sich auch daran, daß inzwischen 80 Prozent der Kinder von Migrantinnen aus dem Mittelmeerraum in Deutschland geboren sind.

Die ersten türkischen Migrantinnen, die von den deutschen Großfirmen wie AEG, Telefunken, Siemens, Osram angeworben wurden, waren meist von Kemal Atatürks Reformen geprägt: Sie waren westlich und modebewußt gekleidet. Im Anfang der Industrialisierung in der Türkei war es noch eine Schande, daß Frauen in der Fabrik arbeiteten. Mit den ersten Arbeitsmigrantinnen (zum damaligen Zeitpunkt hießen sie noch „Gastarbeiterinnen“) begann auch in der Türkei eine Liberalisierung.

Diese Frauen machten erstmals die Erfahrung, mit dem selbstverdienten Geld eigenverantwortlich umzugehen. Das bedeutete für sie, finanziell von Mann oder Familie unabhängig zu sein. Damit erwarben sie sich in der Türkei Ansehen und Respekt. Ehemann, Bruder oder andere männliche Verwandte warteten nun darauf, von ihnen nach Deutschland nachgeholt zu werden.

Seit den sechziger Jahren gab es in der Türkei, die sich auf dem Weg zur Modernisierung ihrer sozio- ökonomischen Wirtschaftsstruktur befand, chronische Massenarbeitslosigkeit (1963 über eine Million Menschen im erwerbsfähigen Alter, offizielle Schätzung). Diese wurde durch die krisenhafte Entwicklung der städtischen Industrie, Mechanisierung und Technisierung der Landwirtschaft und durch den hohen Bevölkerungszuwachs verursacht. Während im Jahr 1969 2,9 Prozent der Männer arbeitslos waren, so waren es 27,8 Prozent der Frauen. Der Entschluß auszuwandern war keine freiwillige Entscheidung, sondern wurde direkt oder indirekt durch die wirtschaftliche Lage im eigenen Land erzwungen. Nach offiziellen Statistiken kamen von 1961 bis 1978 insgesamt 652.703 Menschen in die Bundesrepublik Deutschland. Bis 1965 waren es 8.045 Frauen. Anfang der siebziger Jahre stieg die Zahl sprunghaft: 1973 waren es schon 128.808 Frauen. Nach der Rezessionsphase 1966/67 fragte der deutsche Arbeitsmarkt wegen des niedrigeren Lohnniveaus hauptsächlich weibliche Arbeitskräfte nach. Weil die Industrie ihre veralteten Anlagen auch weiterhin nutzen wollte, hatte sie Bedarf an Arbeitskräften mit manueller Geschicklichkeit. Zum Zeitpunkt des Anwerbestops 1973 betrug der Frauenanteil an den türkischen Arbeitsmigranten 20,2 Prozent.

Die eingereisten Türkinnen wurden ganz gezielt für bestimmte Tätigkeiten in der Industrie angeworben. Als un- oder angelernte Arbeiterinnen setzte man sie vorwiegend im verarbeitenden Gewerbe oder Dienstleistungsbereich ein. Sie waren und sind noch immer besonders von Rationalisierungsmaßnahmen in der Industrie betroffen. In der Regel wurden die Frauen von ihren Familien in der Hoffnung vorgeschickt, kurze Zeit später ihre Ehemänner oder andere männliche Familienmitglieder nachzuholen.

Dazu benötigten sie einen formalrechtlichen Nachweis über genügend Wohnraum und einen Arbeitsplatz. Waren diese Hürden einmal überwunden und der Ehemann nun auch in Deutschland, dann bekam der Mann oft eine Arbeit, bei der er weniger verdiente als seine Frau, oder er wurde später arbeitslos.

Aber selbst dann, wenn beide arbeiteten oder der Mann seine Frau sogar zur Aufgabe der Beschäftigung bewegen konnte, um die traditionellen Familienverhältnisse wieder herzustellen, ließ sich die bereits vollzogene Veränderung nicht mehr zurückdrehen.

Es kamen aber auch alleinstehende, geschiedene oder verwitwete Frauen, die in ihrem Heimatland keine ökonomische Basis für ihr Leben finden konnten. Nicht unerheblich für die Entscheidung auszuwandern war der Wunsch von Frauen, ein neues Leben zu beginnen oder Mitteleuropa kennenzulernen. Das traf besonders für diejenigen Frauen zu, die sich trotz qualifizierter Ausbildung und Beruf im Heimatland (Lehrerinnen, Schneiderinnen, Krankenschwestern etc.) als ungelernte Arbeiterinnen anwerben ließen.

Als die „Pionierinnen“ ins fremde Land einreisten und die deutschen Frauen als Montiererin oder Löterin, beispielsweise bei AEG/Telefunken, ersetzten, gab das vielen deutschen Arbeiterinnen die Möglichkeit, sich über Umschulungsmaßnahmen als Sekretärin, Buchhalterin oder Steuergehilfin weiterzubilden.

Zunächst wohnten die allein eingereisten Frauen in Sammelunterkünften und Heimen der Firmen, die sie angeworben hatten. Das bedeutete, als Einzelperson ohne die gewohnte Großfamilie im Hintergrund leben zu müssen. Einerseits lag darin die Chance, Selbständigkeit und Entscheidungswillen zu entwickeln, weil sie auf sich selbst angewiesen waren und Außenkontakte allein regeln mußten. Andererseits verstärkte das Alleinsein Heimweh und Ängste und verursachte Depressionen. Trotzdem erwarben die Frauen vielfach neue Kompetenzen. Was wiederum oft zu Problemen mit den nachgeholten Ehemännern führte, die diese Entwicklung ihrer Frauen nicht immer nachvollziehen konnten.

Die Frau war nun diejenige, die Deutsch konnte, die eine Arbeit hatte, die sich im Umgang mit Ämtern und Behörden auskannte. Sie hatte es inzwischen gelernt, mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Fremde umzugehen, sie hatte ein gewisses Sicherheitsgefühl erworben, bereits eine Teilanpassung vollzogen.

Bei Migrantinnen der ersten Generation aus der Türkei, insbesondere bei den Frauen, die seit über 20 Jahre hier leben, ist zu beobachten, daß sich ihr allgemeiner Gesundheitszustand gravierend verschlechtert hat. In erste Linie sind es seelische Probleme, die den Frauen zu schaffen machen. Ursachen sind unter anderem das Heimweh, Gegensätze zwischen Normen und Erwartungen im Heimatland einerseits und dem Leben in der Migration andererseits sowie Generationskonflikte mit den Kindern. Weitere Faktoren sind die jahrelange Akkord- und Schichtarbeit, schlechte äußere Lebensbedingungen aufgrund zu geringen oder schlechten Wohnraums und nicht zuletzt die Doppel- oder Dreifachbelastung durch mehrere Arbeitsstellen nebeneinander (neben der Fabrikarbeit von mindestens 8 Stunden am Tag noch eine Putzstelle abends oder frühmorgens sowie zusätzliche Hausarbeit). Vor allem durch diese Gruppe von Frauen wird das Bild der Türkinnen in den Köpfen vieler Deutscher geprägt. Die blutjungen Frauen, die sich in Istanbul von den deutschen Ärzten von Kopf bis Fuß auf die Tauglichkeit untersuchen lassen mußten, um nach Deutschland zu kommen, und die dann ihren Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder geleistet haben, sind heute oft gesundheitlich schwer angeschlagen.

Es ist nicht das Älterwerden dieser türkischen Frauen im allgemeinen, sondern das Altwerden in einem immer noch fremden Land, das aus vielerlei Gründen nicht zur Heimat werden konnte. Einer der wichtigsten Ereignisse im Leben einer Frau nach der ersten Menstruation, der Schwangerschaft und der Geburt sind die Wechseljahre. Die erste Generation der türkischen Arbeitsmigrantinnen hat die Wechseljahre hier durchlebt oder befindet sich noch in diesem Prozeß.

Die Anforderungen, die an die Frauen gestellt wurden, die sich in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache und Kultur, unterschiedlichen Wertvorstellungen, Normen, Lebens- und Arbeitsbedingungen behaupten mußten, konnte nicht ohne Folgen für ihr Denken, Verhalten und Selbstverständnis als Frau bleiben.

Viel ist in der deutschsprachigen Literatur über Migrationsprobleme geschrieben worden. Doch die Situation der ersten Generation von Arbeiterinnen aus der Türkei in den sechziger, siebziger Jahren ist bisher kaum beleuchtet worden, und wenn einmal, dann ausschließlich im Kontext der verschleierten, unterdrückten, dem Manne gehorsamen Mohammedanerin.

Und auch die türkischen WissenschaftlerInnen, die sich seit einigen Jahren mit der zweiten und dritten Einwanderergeneration befassen, haben den Mut und den Leidensweg der türkischen Migrantinnen der ersten Generation bisher noch nicht aufgeschrieben und gewürdigt.

(Das Zahlenmaterial beruht auf Untersuchungen des Zentrums für Türkeistudien in Essen).

Tülay Çinar ist Diplm-Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin. Sie arbeitet an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik im Bereich Studienzentrum Geschlechterverhältnisse