: Kochbuch, Backbuch, Pilzbuch und die „Linde“
Er war Bürgerrechtler und Stasi-Auflöser, ein Kritiker der Verhältnisse ist er geblieben – sie war 13 Jahre in der SED, verließ im Zorn die PDS und hat mit den Genossen gebrochen. Heute zapfen die beiden Bier in der „Linde“, sehen nach, ob die Hühner Eier gelegt haben und reden gelegentlich über Politik: Reinhard Schult und Karin Dörre in Fredersdorf ■ Von Nadja Klinger
Es ist kurz nach neun. Fredersdorf in der Uckermark döst in den Tag. Wer von den Bewohnern irgendwo Arbeit hat, hat das Dorf längst verlassen. Karin Dörres spitze Absätze klappern über die Straße. Das macht jemandem Hoffnung. „Hallo“, ruft er der Frau hinterher. „Hallo!“ Sie schließt die Kneipentür „Zur Linde“ auf. „Macht ihr schon auf?“ japst es nun hinter ihr. Der Rufer hat sie eingeholt. „Nein, ich will telefonieren“, antwortet Karin Dörre, „aber komm rein.“ Sie stellt für den Mann einen Schnaps auf den Tresen und geht zum Telefon.
Sieben Stunden später. Fredersdorf dämmert in den Abend. Bald kehren die Berufstätigen heim. Reinhard Schult schlurft über die Straße. Er trägt einen gelben Plastikkorb. Darin hat er eine Rama- Schachtel, eine Geflügelsalatdose und die Kneipenkasse. Er schließt die Tür „Zur Linde“ auf. Frische Landluft dringt in den muffigen Raum. Schult drückt auf den Lichtschalter. Eine Lampe mit der Aufschrift „Wernesgrüner“ beginnt zu brummen und wirft schwaches Licht auf die dunkle Tapete. Auf dieser Tapete klebt noch die alte Zeit: Fotos von einer Steilküste und einem Gebirgsbach, irgendwo weit weg. Die neue Zeit gammelt in der Vitrine hinter dem Tresen: Kartoffelchips, Erdnußflips und Haribo-Seepferdchen aus dem Großmarkt.
Reinhard Schult öffnet die Rama- Schachtel und füttert den Spielautomaten mit Geldstücken. Der fängt übermütig an zu dudeln. Schult öffnet die Geflügelsalatdose und füttert das Dart-Spiel. Bunte Lämpchen flackern durcheinander. Der Anrufbeantworter blinkt auch. „Ich weiß nicht, ob ich zu hören bin“, läßt sich schwach eine Frauenstimme aus Berlin vernehmen. „Ihr jedenfalls seid hinterm ...“ Dann piept es.
„Mit der Technik ist es bei euch da draußen auch nicht so weit her!“ ruft die Frau beim zweiten Anlauf. Dann unterbricht der Piep wieder die Leitung. Reinhard Schult legt sein Ohr auf den Lautsprecher und wartet weitere Verbindungen ab.
Die Kneipentür ächzt. „Tach“, sagt jemand. Ein Anorak mit Mütze bewegt sich an den leeren Tischen vorbei zielstrebig auf den dritten von vorne zu. „Cola?“ fragt Reinhard Schult. Unter der Mütze taucht ein Gesicht auf. Es sendet einen zustimmenden Blick und senkt sich wieder. „Wodka auch?“ fragt Reinhard Schult. Noch einmal an diesem Tag hebt sein Gast den Kopf.
Die Kneipentür ächzt wieder. Karin Dörre stakst auf den Tresen zu. „Deine Enten sind blöde Enten“, sagt sie und hangelt sich auf einen Barhocker. „Wieso“, fragt Reinhard Schult. Er hat die Tiere erst gestern gekauft. „Wie die sich angestellt haben, als ich sie in den Stall bringen wollte! Ich bin mehrere Runden mit rudernden Armen durchs Gehege gerannt.“ Schult nimmt Wodka aus dem Eisfach und grinst. „Wer weiß, wie die Enten jetzt über dich reden.“
Es ist nicht lange her, da hätte sich Karin Dörre weder mit vier weißen Enten noch mit anderen Dingen, die Reinhard Schult wichtig waren, beschäftigt. Auch er hätte mit ihr nichts im Sinn gehabt. Vor fünf Jahren haben beide eine Chance genutzt. Jetzt wissen sie, was nicht möglich ist.
Die Journalistin und Genossin Karin Dörre war in der DDR engagiert. Sie arbeitete für die FDJ-Zeitung, als Referentin im Zentralrat der FDJ, für die Zeitung der SED. Sie war stolz, wenn ihr Name unter kleinen Beiträgen stand und strebte danach, auch große zu schreiben. Sie war eine kleine Frau, die groß in Erscheinung treten wollte. Sie kleidete sich exquisit, redete überall ein Wörtchen mit, sogar am Feierabend. Sie war Parteisekretärin in ihrem Wohngebiet im Prenzlauer Berg. Einmal im Monat leitete sie die Versammlung. Dann sprach sie, wesentliche Diskussionen gab es nicht. Auch nicht im Herbst 1989, als sie ein Papier zum Neuen Forum verlas. Für diese Organisation, erklärte sie im Namen der Parteiführung, bestünde keine gesellschaftliche Notwendigkeit.
Reinhard Schult war auch engagiert. Er hatte sich vorgenommen, so lange keine Ruhe zu geben, bis sich in der DDR etwas verändert. Er las Philosophen, sprach über alternative Gesellschaftskonzepte, arbeitete in Friedensgruppen, baute Bibliotheken mit verbotener Literatur und einen Piratensender im Radio auf. Er war ein großer Mann, der nicht die Chance hatte, groß in Erscheinung zu treten. In den 70er Jahren verbrachte er acht Monate in Untersuchungshaft, in den 80ern durfte er nicht einmal in die ČSSR reisen. Alles unter zwei Jahren Gefängnis wollte er aushalten, ohne die DDR zu verlassen. Er war ein Staatsfeind und fühlte sich bis 1989 auch so. Im September jenes Jahres gründete er zusammen mit anderen Bürgerrechtlern das Neue Forum. Dieser erneute Versuch, sich in der Enge der DDR Luft zu machen, sollte schneller scheitern als andere. Das Innenministerium verbot den Verein.
Für Karin Dörre bekamen die politischen Ereignisse dieser Tage erstmals persönliche Bezüge, als ihr Friseur sie am vereinbarten Termin sitzenließ: Er war über Ungarn abgehauen. Dann sollte sie als Wohngebietssekretärin im Auftrag ihrer Partei dem Pfarrer der Gethsemanekirche sagen, daß die Mahnwachen vor seinem Haus die Anwohner störten. Sie sah sich die Leute mit den Kerzen an und konnte nicht erkennen, inwiefern sie stören. Sie traute sich nicht, den Pfarrer anzurufen. Was wirklich los war, drang in ihren Kopf noch nicht durch. Sie fuhr mit dem Trabant umher. Die Straßen waren ungewöhnlich voll, aber von den Leuten, die sie im Kiez kannte, traf sie niemanden. Der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei sei im Urlaub, erklärte ihr ein Mann, der dessen Tür öffnete. „Hier sind so viele Leute auf den Beinen, hier steht so viel Polizei herum, und der ABV ist im Urlaub?“ fragte sich Karin Dörre verständnislos.
Auch Reinhard Schult war mit dem Trabant unterwegs, auch an der Gethsemanekirche. Der abgebrühte Mann aber hatte, im Gegensatz zu Karin Dörre, bald seine Ruhe verloren. Seit Tagen verfolgten ihn vier vollbesetzte Autos. Schult befürchtete, daß die Männer nach den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR zugreifen würden. Am Abend des 8. Oktober entwischte er, getarnt mit einem noblen Jackett von Jens Reich, einer Brille und einer Aktentasche, der Stasi nach Leipzig. Von dort aus telefonierte er wieder und wieder mit Berlin und war überrascht, daß die SED nirgendwo die Notbremse gezogen hatte.
Die Wende zerstörte Karin Dörre alles, woran sie geglaubt hatte. Schließlich stand sie vor dem Scherbenhaufen ihres politischen Lebens. Sie wäre gern aus der SED ausgetreten, wollte aber nicht vor der eigenen Geschichte davonlaufen. Die Partei beschloß, offen und ehrlich mit der Vergangenheit umzugehen. Karin Dörre nahm sich das zu Herzen. Sie arbeitete ehrenamtlich in der PDS, redete wieder überall mit und, wenn sie es für nötig hielt, gegen ihre eigenen Leute an. Sie suchte Kontakt zu Bürgerrechtlern, die sie vor 1989 ignoriert hatte. Sie wurde Mitglied des Bundesvorstandes der PDS und des Berliner Abgeordnetenhauses. Dort begegnete sie Reinhard Schult.
Der Mann, der nie losgelöst von seinen Gefühlen und seinem Gewissen politisch gedacht hatte, tat das auch als Abgeordneter des Neuen Forum nicht. Er wollte weniger Papier vollschreiben und mehr Entscheidungen fällen. Er wollte nicht parteitaktisch denken. In ein paar Genossen um Karin Dörre fand er Unterstützung, es kam zu gemeinsamen Aktionen. Selbst als Schult hartnäckig die Stasi-Mitarbeit von PDS-Fraktionsmitgliedern aufdeckte und deren Abgang bewirkte.
Karin Dörre war das Denken und Tun der Leute vom Neuen Forum zunehmend näher als das der eigenen Partei. Reinhard Schult begann am Beispiel Karin Dörres zu akzeptieren, daß sich Menschen seit 1989 verändert haben können. An einem Abend waren die beiden miteinander allein. Auf viele politische Gespräche folgte der erste Kuß. Auf weitere Küsse ein Urlaub in Schweden. Reinhard Schult wurde von den eigenen Leuten vorgeworfen, er lasse das Neue Forum von der PDS unterwandern. Karin Dörre wurde in ihrer Partei gefragt, für wen sie eigentlich arbeite.
Im Frühjahr 1994 erzählte sie dem Spiegel, wie unaufrichtig die PDS mit ihrer Vergangenheit und den enttarnten IMs umgeht. Durch dieses Interview mit „dem Feind“ verlor sie die wenigen Verbündeten, die sie in der Partei noch hatte. Anfang 1995 trat sie aus der PDS aus. Den nächsten Parteitag besuchte sie nicht einmal mehr als Zuschauerin. Reinhard Schult, der auf allen diesen Veranstaltungen war, ging allein. Er band Transparente an PDS- Luftballons, ließ sie aufsteigen. „Vorwärts und vergessen“ stand auf einem, „Kaiser nicht, Brie nicht, Gysi nicht“ auf einem anderen. „Deine ehemaligen Genossen sahen ulkig aus, wie sie den Dingern hinterhergehechtet sind“, witzelte er später zu Hause.
Als in Berlin im Herbst diesen Jahres ein neues Abgeordnetenhaus gewählt wird, wohnen Karin Dörre und Reinhard Schult in einem 200 Jahre alten Haus in Fredersdorf. Sie, die von Dezember 1990 bis zum Oktober 1995 selbst im Parlament saßen, gehen nicht zur Wahl. Reinhard Schult hat, außer in der Wendezeit, nie gewählt. Karin Dörre verweigert sich zum erstenmal.
Die beiden sitzen in der Küche an dem großen Holztisch, den Reinhard Schult aus dem Abgeordnetenhaus geholt hat. Bisher hat das Neue Forum daran gesessen, aber es kandidiert nicht mehr. „Ich habe über zehn Jahre ohne Parlament Politik gemacht und werde das wieder tun“, sagt Schult und ißt selbstgebackenen Blaubeerkuchen. Für den Fall, daß das ein bißchen traurig klingen könnte, fügt er hinzu: „Ich bin realistisch. Parlamente machen keine Politik, sondern fällen parteitaktische Entscheidungen. Und weil die Menschen nicht interessiert, was im Parlament passiert, üben sie keinen Druck aus.“
Zwar will er Enttäuschung nicht zugeben, doch er erinnert sich noch oft an die Zeit nach der Wende, als viele Menschen einen Grund sahen, sich den ganzen Tag mit Politik zu beschäftigen. „Unsere Demo mit 3.000 Mann vom Lenindenkmal zur Treuhand, von Anschiß zu Anschiß, war noch lustig. Ein Kabarettist hat Kohl veräppelt“, schweift er kurz ab und fängt sich wieder. „Man darf von den Menschen nicht zuviel erwarten.“ Ohne Frust tut er sich mit den Fredersdorfern zusammen. Er erwartet nicht zuviel von ihnen. Er läßt sich erklären, wie man ein Huhn schlachtet und tut es.
Karin Dörre will mit Schlachten nichts zu tun haben. Sie macht um den Ort der Hinrichtung, einen Baumstumpf, an dem weiße Federn kleben, einen Bogen und wartet am Kochtopf.
Sie hat die PDS nicht vergessen und den Genossen nicht vergeben. „Sie wollen im Parlament und in der Gesellschaft anerkannt sein. Sie verfluchen die Nostalgiker in ihrer Parteibasis, aber besinnen sich im rechten Moment auf sie und decken die IMs.“ Traurig ist sie, das gibt sie zu – aber nicht unbeschäftigt. Im Regal hinter ihr stehen das Gartenbuch, das Pilzbuch, das Backbuch, das Kochbuch, das Buch für Feinschmecker, das Buch übers Grillen, das Buch über biologischen Gartenbau. Außerdem will Karin Dörre im Arbeitskreis des Ausländerbeauftragten in Prenzlau mitarbeiten und sich in einer Gruppe in der Uckermark um Kurden kümmern. „Mir fehlen die Interviews nicht“, sagt die kleine Frau, die so gern große Auftritte hatte. Aber sie hat begriffen, wie wertvoll es sein kann, sich zu verändern. „Vor fünf Jahren wäre mir alles, was nicht mit einer großen Partei zu tun hat, nicht in den Sinn gekommen“, gibt sie zu.
Journalisten wollen die Aussteiger aus der etablierten Politik in Fredersdorf besuchen. Die beiden wehren fast alle ab. „Wir sind nicht ausgestiegen“, erklären sie. Lassen sie dann doch jemanden zu sich, erlebt er Dialoge wie diesen: „Reinhard, wieviel Jahre war ich in der Partei?“ – „Achtzehn.“ – „Sind die der PDS mit dabei?“ Schulz zieht die Stirn kraus, als versuche er sich zu erinnern. Er kommt nicht dazu. „Komm zum Fenster, die Katze hat eine Maus gefangen“, ruft Karin Dörre, „der Schwanz hängt ihr aus dem Maul.“
Im Frühling haben die Politikerin und der Politiker die Dorfkneipe „Zur Linde“ übernommen. Als erstes hat Karin Dörre Strohblumen und Kerzen auf die Tische gestellt. Die Gäste haben die zunächst vom Tisch genommen. Mittlerweile schieben sie sie nur ein Stückchen von sich weg. Ab und zu fragt einer: „Hat heute jemand Geburtstag?“ Seit dem Frühling gibt es neben Bier, Schnaps und Likör auch Weine und Sekt in der „Linde“. Die Gäste aber trinken dasselbe, was sie immer getrunken haben. Ihre Schulden lassen sie in demselben Buch anschreiben.
Einmal hat Reinhard Schult bei Otto zwei Matratzen bestellt. Bei der Lieferung erkannte ein Angestellter der Firma den Mann aus dem Fernsehen und hatte eine gute Idee. „Wollen Sie unser Vertreter in Fredersdorf werden?“ fragte er ihn. Seitdem liegen auf dem Ofen in der Kneipe Kataloge aus. Würde ein Dorfbewohner etwas haben wollen, würde Reinhard Schult es bestellen, verteilen und bekäme Provision. Aber die Leute bestellen nichts. Nur einen Bekannten, der ein paar Kilometer übers Land wohnt, konnte der Fredersdorfer Otto-Vertreter zu einer Kettensäge überreden.
Auch von seinen Gästen ist Reinhard Schult recht schnell erkannt worden. Zu einer Zeit, da sie sich Politik im Fernsehen ansahen, hat er am Runden Tisch gesessen. Nun versuchen sie politische Gespräche mit ihm. „Jeder müßte eine Waffe in die Hand kriegen, dann wäre es mit der Kriminalität endlich vorbei“, sagt ein Kneipengast. Schult schluckt das nicht, aber hält sich zurück. Ebenso bei den Sprüchen, die er nicht leiden kann: „So war's immer, und so wird's auch bleiben.“ Er erklärt: „Die Menschen hier haben einen begrenzten Horizont und haben einen Stolz, der fast Sturheit ist.“ Und schwärmt: „Sie verstellen sich nicht.“ Irgendwann haben die Dorfbewohner auch Karin Dörre enttarnt. Sie sei die Sekretärin von Gregor Gysi, erzählte man sich. Schult fing das Gerücht in der Kneipe auf und erzählte, daß sie wie er im Berliner Abgeordnetenhaus gesessen hätte. Vom PDS-Bundesvorstand sagte er nichts, weil er meinte, daß das nicht verstanden, sondern wieder ein komisches Gerücht werden würde.
Die Tür ächzt wieder. Udo tritt ins Kneipendunkel. „Kommst ja jetzt schon“, begrüßt Karin Dörre ihn. Er dreht sich um, als wolle er wieder gehen. „Bier?“ besänftigt sie. „Selters“, sagt Udo. Er hängt seinen Oberkörper über den Tresen. „Biste krank?“ fragt Karin Dörre. „Hast schon gestern dein Bier nicht ausgetrunken.“ – „Was, war ich gestern hier?“
Udo kommt fast jeden Tag. So wie Jürgen, Peter, Gerold und Ecki, der seinen Hof nebenan hat. Die Männer erzählen immer dieselben Geschichten von Arbeitslosigkeit, ABM und davon, daß es auf den heimischen Höfen viel zu tun, aber niemanden zum Reden gebe. Peter schiebt Reinhard Schult eine Annonce zu. Eine Fensterfirma sucht eine Arbeitskraft. „Kannste mal anrufen und fragen, ob die mich gebrauchen können?“ bittet er.
Wenn sie mal nicht da sind, wissen Karin Dörre und Reinhard Schult, wo ihre Gäste sind. Viele Möglichkeiten gibt es nicht. In der Kneipe in Briest steht ein Fernseher, dort sehen sie sich Henry Maskes Boxkampf an. Oder irgendwo ist Disco. „In Casekow war eine Tänzerin, die hat eine Vogelspinne über ihren nackten Bauch laufen lassen“, berichtet Udo. Einer der Gäste hat kürzlich laut davon geträumt, wie Karin Dörre oben ohne Bier zapft. „Dann baue ich den Tresen höher“, sagt Reinhard Schult.
Den Wein, den es in der „Linde“ im Angebot gibt, trinken nur Freunde der Wirtsleute. Die Bürgerrechtler und Grünen zum Beispiel, die mit den beiden zusammen die Bäume aus dem Wald geholt und auf ihren Äckern hinterm Haus gepflanzt haben. „Es gibt schon noch Kontakt“, meint Karin Dörre, „das Haus ist oft voll.“ Man kann es auch so sagen: Es gibt Leute, die waren mal Freunde und kommen nicht. Reinhard Schult sieht im Fernsehen, wie Bärbel Bohley den Kanzler empfängt, wie Jens Reich zum hundertstenmal über das Neue Forum redet, in dem er gar nicht mehr drin ist, und regt sich auf. Dann geht er zum Stall und schaut nach, ob eines der Hühner ein Ei gelegt hat. Walnüsse knirschen unter seinen Schritten.
Karin Dörre ist von ihrer Partei wie eine Aussätzige behandelt worden. Sie fühlt sich unfähig, den Kontakt, den die Genossen mit ihr abgebrochen haben, wieder aufzunehmen. Sie hastet mit dem Fotoapparat in den Garten, als sich auf dem Mast hinterm Haus ein Storch niederläßt. Um den Mast aufzustellen, haben sie einen Kran benötigt – der hat gekostet! Der Vogel ist auf dem Weg in den Süden. Vielleicht kehrt er im Frühling zurück.
Mitunter kommen in der „Linde“ Anrufe an, die Reinhard Schult wieder in das hineinziehen, was er hinter sich gelassen hat. Neulich zum Beispiel fragte Ingrid Köppe an, ob man ihm auch das Bundesverdienstkreuz geben wolle. Aber in Fredersdorf war kein Brief des Bundespräsidenten angekommen. Reinhard Schult hätte das Kreuz gern zusammen mit Ingrid Köppe verweigert. „Nur nicht so auf den letzten Drücker wie sie“, sagt er und träumt: „Dann hätten unsichere Leute wie Christian Führer in Leipzig sicher auch abgelehnt.“
Enttäuscht ist er aber auch. Wie er gehört hat, sollen sich die Bürgerrechtler sogar untereinander vorgeschlagen und zur Auszeichnung überredet haben. „Du bist doch nur beleidigt, weil du kein Kreuzchen bekommen hast“, neckt ihn Karin Dörre. Schult zeigt ihr einen Vogel. An dem Ding hänge doch nicht einmal was dran. „Ich habe nur was von freier Bahnfahrt gehört“, sagt er. In Fredersdorf gibt es keine Station.
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