Wiedergefundene Begeisterung

■ Der französische Soziologe Edgar Morin sieht in den Streiks eine Rückkehr der republikanischen Identität

Herr Morin, die heutige soziale Bewegung in Frankreich wird oft mit dem Mai 68 verglichen. Glauben Sie, daß die Streikwelle eine ähnlich tiefe Spur in der Geschichte des Landes hinterlassen wird?

Edgar Morin: Die Studentenbewegung vom Mai 68 legte eine Notlage der Zivilisation offen und glaubte zugleich, in der Idee der Revolution eine Lösung gefunden zu haben, die ihren Sehnsüchten entsprach. Wenn der Sinn des Mai 68 die Revolution war, dann war er eine Pleite. Wenn man sich aber die Erfahrung der Revolte und der gelebten Brüderlichkeit vor Augen hält, dann war er ein Erfolg. Wenn man darüber hinaus berücksichtigt, daß der Mai 68 eine Lücke ins gesellschaftliche Gefüge geschlagen hat, durch die die Wünsche der Frauen zutage treten konnten, die ökologischen Probleme, die Suche nach neuen Geschlechterbeziehungen, dann ist er nicht gescheitert.

Die heutige Lage ist eine andere. Überall in der Welt gibt es eine Krise der Zukunft, das heißt des Fortschritts, der bis vor 25 Jahren ein festes Versprechen im Osten wie im Westen schien.

Man hat gesagt, der heutigen Bewegung fehlten langfristige Strategien. Aber hat der offensichtliche Mangel an politischen Perspektiven, der die politische Lage kennzeichnet, denn nur negative Seiten?

Unter den Bedingungen einer harten Sparpolitik, die die öffentlichen Dienste auf den Wettbewerb vorbereiten sollte, hat der Plan Juppés eine Kettenreaktion ausgelöst. Sehen Sie, beim Verständnis der Ereignisse sind zwei Interpretationsweisen besonders hinderlich. Die erste ist die Binsenweisheit der amtlichen Kreise: Das ist alles nur passiert, weil Juppé ungeschickt war, weil die Polit-Technokraten, die vergessen haben, denen zu danken, die die Opfer bringen, einfach zu wenig erklären. Das ist wohl wahr, bleibt aber an der Oberfläche. Im Kern ist es nicht die Sprache, an der es gefehlt hat, sondern das Denken. In Wirklichkeit gibt es kein eigentliches politisches Denken mehr, seit dem Ministerium von Barre unter Giscard bis heute herrscht ein Denken, das das Politische auf das Ökonomische reduziert. Die zweite ist die Binsenweisheit der Linken, die glaubt, man habe die Zukunft wiedergewonnen, die scharfen Konflikte seien wiedererstanden, das Proletariat in Bewegung geraten. Doch diese Bewegung hat keinen politischen Horizont: Das Wort Sozialismus ist heute leer.

Fordert die heutige Bewegung aber nicht zunächst von der Gesellschaft ganz einfach und altmodisch Solidarität?

Ich glaube, man sollte das heiße Magma betrachten, das aus dem Krater austritt, statt die Ereignisse in ideologischen Schemata einzusperren und Abhilfe in vergangenen Konstellationen zu suchen. Tatsächlich stand der Anfang zunächst unter dem Zeichen des Korporativismus, man war fixiert auf die Vorteile, die aus einer Furcht vor einem massiven Anstieg der Entlassungen im öffentlichen Sektor zu ziehen waren. Und die techno-politischen „Eliten“, die uns regieren, haben nicht verstanden, daß die schönen Worte, mit denen sie glaubten Hoffnung verbreiten zu können, bei den Arbeitnehmern böse Enttäuschungen ausgelöst haben: So bedeutet das Wort „Wettbewerbsfähigkeit“ Entlassungen, das Wort „Privatisierung“ massive Entlassungen. Bald nachdem er begonnen hatte, hat der Streik der öffentlichen Dienste jedoch durch die ihm zufliegende Sympathie eine allgemeinere Unzufriedenheit offenbart, und diese ist dann mehr und mehr hinsichtlich aller Grundprobleme unserer Gesellschaft zum Vorschein gekommen.

Ein außerordentliches Phänomen: Die Lähmung der öffentlichen Dienste hat die Wiederbelebung des betäubten sozialen Gewebes in Frankreich bewirkt. Das vorübergehende Verschwinden der stumpfen Routine von Metro- Maloche-Matratze (frz. sprichwörtlich: métro-boulot-dodo, d. R.) hat nicht nur den Verkehr der Metro unterbrochen, die Arbeit chaotisiert und den Schlaf verkürzt. Die Wirkung war nicht allein, die Leute zu ermüden – sie wurden aus ihrer Routine gerissen, dem Unvorhersehbaren, Außergewöhnlichen ausgesetzt, und zugleich wurden Kompetenzen zum Durchwursteln, Erfindungsreichtum und Solidarität, regeneriert. Diese Solidarität ist urplötzlich wieder aufgetaucht, mitten in einem Leben der Beschränkung auf sich selbst und des allgemeinen Meckerns. Zu sehen, wie diese Bahnangestellten in einer Provinzstadt ihre Brüderlichkeit wiederfinden, die Anhänglichkeit an ihre Gewerkschaft, wie sie die Solidarität ihrer Umgebung entdecken, das hat etwas Rührendes für einen, der wie ich bis in die Knochen ein Linker ist.

Ich erinnere mich an einen Streik im Wallonischen, als diese einst wohlhabende Region sich gegen die Verarmung wehrte. Die Streikenden wurden für ein paar Tage die Souveräne einer Welt, in der sie sonst die Unterworfenen waren. Auch wenn sie am Ende besiegt wurden, bewahrten sie doch die glückliche Erinnerung an die Solidarität und die Auflehnung gegen das Schicksal. Ich glaube, daß die zwei ersten Wochen des Streiks im Dezember eine historische Ekstase bewirken: Ekstase im Sinne von aus dem Häuschen geraten und von wiedergefundener Begeisterung.

Sie sprechen gerne vom Prozeß der Globalisierung. Aber sind die derzeitigen Ereignisse nicht eine spezifisch französische Angelegenheit?

Während die Mehrzahl der Länder auf die Krise der Zukunft und auf die technische und wirtschaftliche Globalisierung durch eine Rückwendung auf die ethnisch-religiöse Vergangenheit reagieren, wendet sich auch Frankreich auf seine eigene Art seiner Vergangenheit zu. Es hat eine Berechtigung, daß man seine Identität zu wahren versucht, seine Lebenskunst, die Gastfreundschaft, die Zivilisation. Aber die Richtung der aktuellen Bewegung ist keine nationalistische Kehrtwendung, sondern eine Rückkehr zur republikanischen Identität, die im Keim das Universelle und die Integration des Fremden in sich trägt. Die Bewahrung der Identität steht immer dann in Gefahr, eine grausame Wendung zu nehmen, wenn sie religiös, rassistisch, xenophob wird. In Frankreich hat sie die Chance, einen anderen Sinn anzunehmen: den der Öffnung für die grundlegenden Probleme dieses Jahrhundertendes.

Interview: Arnaud Spire

Übersetzung: Jörg Lau