: 90 Minuten Chomsky
■ Die Computer lernen singen: Neue Software macht endlich auch Musik- und Wortsendungen im Internet möglich
Wenn Jerry Garcia das geahnt hätte. Kaum liegt der Grateful- Dead-Sänger tot unter der Erde, ist seine Beerdigung weltweit im Cyberspace zu hören! Der amerikanische Sender „RadioNet“ hat sein fast zweistündiges Feature mit Musik und Interviews zum Garcia- Memorial auf seinem Computer abgelegt (http://www.human.com/ radionet/). Um es hören zu können, genügt als kleine Erweiterung der üblichen WWW-Software ein sogenannter RealAudio-Player. Damit können Töne in Echtzeit über die normale Internet-Telefonleitung auf den heimischen Rechner übertragen und mit der Soundkarte abgespielt werden – die allerdings muß schon auch noch vorhanden sein.
„Audio-on-demand“ heißt der Oberbegriff für alles Klingende aus dem Internet, vom herkömmlichen US-Talkradios bis zu rein virtuellen Anbietern wie dem „InternetRadio“, die es nur im Netz gibt und garantiert nie „on air“.
Setzt sich das System durch, könnte künftig jeder und jede im besten Brechtschen Sinne zum Sender von Radioangeboten werden. Die Rundfunklandschaft würde kräftig umgepflügt – die Internet-Gemeinde feiert den Fortschritt schon heute als kleine Sensation. Bislang mußten Audiodaten umständlich und langwierig auf die Festplatte geladen werden. Bis die US-Firma „Progressive Networks“ aus Seattle ein Erbarmen hatte. Sie entwickelte ihr „RealAudio“. Der dazugehörige Player kann kostenlos aus dem Netz geladen werden.
Damit steht dem Audio-Surfen zwischen Hawaii, Tokio und Südkorea nichts mehr im Wege. Auch zeitliche Grenzen fallen weg. Von einem britischen Server kann beispielsweise eine anderthalbstündige Univorlesung von Noam Chomsky abgerufen werden.
Zweimal wöchentlich ergänzt die Firma ihre Liste mit weltweiten Links zu WWW- Seiten, die „RealAudio“-Files anbieten. Zu den ersten Nutzern des Systems zählte das US-Netzwerk „abc“. Seit diesem Sommer ist die jeweils aktuelle Nachrichtensendung nebst Kommentar abzurufen. Sie wird viertelstündlich aktualisiert.
Seit Oktober ist das Auslandsprogramm der Deutschen Welle in deutsch und englisch zu hören. Auch der hessische Privatsender „Hit-Radio FFH“ will mitschwimmen, zunächst nur mit aktuellen Verkehrsmeldungen. Um damit nicht ins Leere zu fallen, bedient sich der Kommerzsender des Frankfurter Internet-Providers „Germany Net“, der seinen kostenlosen Netzzugang mit einer geballten Werbeladung finanziert.
Aber auch „Progressive Networks“ rührt kräftig auf die Werbetrommel. Mit der Parole „Zeigt der Welt eure musikalischen Talente!“ lockt sie Bands an, die ihre Werke gleich weltweit veröffentlichen wollen. „Ihr müßt keine große Firma besitzen oder viel Geld ausgeben, um Millionen Benutzer im Internet zu erreichen.“ Rob Glaser, Chef der „Progressive Networks“, glaubt, sein „Real Audio-System“ werde (zusammen mit Windows '95) zum Industriestandard. Seit April seien weltweit schon mehr als 300.000 Player heruntergeladen worden.
Das Programm läuft auch unter den alten Windows 3.x-Versionen. Dann ist dem Computer aber bestenfalls Mittelwellen- oder Kurzwellensound zu entlocken. Für Januar ist eine verbesserte Version angekündigt, die dann immerhin UKW-Monoqualität schaffen soll. Mindestvoraussetzung dafür sind allerdings Modems, die 28.800 Bits pro Sekunde (bps) verkraften.
Doch die Konkurrenz schläft nicht. Ebenfalls kostenlos herunterzuladen ist das Konkurrenzprodukt „Internet Wave“ („Iwave“) der Herstellerfirma VocalTec Inc. aus Northvale/New Jersey, das Ende September vorgestellt wurde. Damit öffne sich für Radiostationen die Tür zur Welt, glaubt Tony Gatto vom lokalen WCBS Radio in New York, „wir können nun weltweit neue Hörer erreichen“.
Nach Auskunft des Herstellers ist die Audioqualität bei einem Modem mit 14.400 Bit pro Sekunde vergleichbar mit einem Mittelwellensignal. Mit einem doppelt so schnellen Modem werde UKW- Qualität erreicht. Sogar der „Encoder“ zum Erstellen von Audiofiles wird aus Marketinggründen kostenlos verteilt – mit Software- Speck fängt man Computermäuse. Denn die Herstellerfirma möchte mit diesen Lockvögeln vor allem für ihr keineswegs kostenloses „InternetPhone“ werben, eine Software, die auch Telefongespräche im World Wide Web möglich macht.
Als dritter Hersteller hat in diesem Herbst schließlich die US-Firma DSP Group Inc. (Santa Clara/Kalifornien) ihren „TrueSpeech Player“ in einer Beta-Version vorgestellt, ein System, das selbst mit einer Übertragungsrate von 14.400 bps annehmbaren Sound liefert. Unter dem „TrueSpeech“-Symbol tummeln sich bereits zahlreiche Anbieter, darunter solche mit skurrilen WWW-Seiten wie „Chili Beans Country Musik“, „Janans's Word Animation and TrueSpeech Poems“ und „Sokolin's Internet Wine Radio“.
Natürlich spricht auch O.J. Simpson („OJ Speaks“) in der Audiowelt der vernetzten Rechner. Und natürlich sendet das seriöse Network CBS seine Nachrichten „up to the minute“. Um den Systemwirrwarr perfekt zu machen, bietet DSP den dazugehörigen Encoder zwar auch kostenlos an – er arbeitet jedoch nur unter Windows '95 oder Windows NT.
Der zeitliche Vorsprung von Progressive Networks könnte trotz der hohen Kosten für den dazugehörenden Decoder den Ausschlag geben, welches System sich auf dem Markt des Audio-on-demand durchsetzt. Bis dahin hilft nur eines: ausprobieren. Stefan Müller
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen