■ Österreich im Wahlfieber: Viele Varianten, keine Ideen
: Wiener Haltungsschäden

Franz Vranitzky, der Sozialist im Nadelstreif, saß eingekeilt zwischen Wolfgang Schüssel (Volkspartei) und Jörg Haider (Freiheitliche) und sprach via TV zum Wählervolk: „Jetzt heißt es, unser Engagement für soziale Gerechtigkeit und die kleinen Leute sei Klassenkampf. Na ja, wenn Sie wollen, dann ist das halt Klassenkampf. Wir stehen dazu.“ O Wunder: Der Mann, der via Vorstandsetage einer Großbank ins Finanzministerium und dann ins Kanzleramt eingezogen war, wird auf seine alten Tage noch zum Klassenkämpfer! Sichere Pensionen, sichere medizinische Betreuung für Bedürftige, all das versprach des Kanzlers Sozialdemokratie in den vergangenen zwei Wahlkampfmonaten.

Wunder Nummer zwei: Es dürfte sich lohnen. Jüngste Umfragen sehen die Sozialdemokraten wieder deutlich vor der christlich- konservativen Volkspartei und Haiders Freiheitlichen. Somit bleiben vor dem Wahlsonntag drei Varianten: a) Daß ÖVP-Chef Wolfgang Schüssel trotz des deutlichen Abstands zur SPÖ ein rechts-populistisches Wendekabinett mit Haiders Freiheitlichen bildet, scheint zunehmend unwahrscheinlich. b) Noch unrealistischer, aber nicht mehr unmöglich ist, daß es für eine Ampel aus SPÖ, Grünen und Linksliberalen reicht. c) Am wahrscheinlichsten aber ist, daß Österreich auch nach dem 17. Dezember regiert wird wie bisher: von einer Großen Koalition.

Viel Lärm um nichts also? Nein, denn dieser Wahlkampf hat mehreres verdeutlicht: Erstens wurde die Selbstblockade der politischen Eliten und der Institutionen des Landes offenkundig. Zweitens die Identitätskrise der Zweiten Republik. Drittens offenbarte er das Versagen der österreichischen Intellektuellen, das Fehlen einer demokratischen Öffentlichkeit, den Mangel an republikanischer Verläßlichkeit.

1. Jörg Haiders Aufstieg oktroyierte dem politischen Kräftespiel etwas Unausweichliches, Alternativloses. Er ist so stark, daß bislang nur eine Große Koalition gegen ihn eine Mehrheit hat. Ein Regierungswechsel war damit im Grunde ausgeschlossen. Wenn Wahlen wie 1986, 1990 und 1994 nichts mehr ändern können, dann tut das einer Demokratie aber nicht gut.

Diese Unausweichlichkeit, der Zwang zur Großen Koalition, wurde nun durch den spektakulären Koalitionsbruch der „Volkspartei“ aufgebrochen, die Grundkonstellation aber blieb beibehalten. Haider als negativer Fixpunkt des politischen Kräftespiels. Die alles überlagernde Frage in diesem Wahlkampf blieb: Wird die Volkspartei mit Haider eine populistisch-konservative Wende à la Thatcher, Gingrich & Co. erzwingen? Oder gelingt es der Sozialdemokratie, den Einzug Haiders in die Regierung zu verhindern? Zwar stehen somit reale Alternativen zur Auswahl – doch über mehr als zwei negative Perspektiven haben die Österreicher auch diesmal nicht zu befinden: „Finstere Reaktion“ oder ideenloses „Weiter so!“. Der zugkräftigste Slogan der Sozialdemokraten ist demnach: „Keine Experimente!“

Haiders „Freiheitliche“ sind somit der Ausdruck einer spezifisch österreichischen Krise des Politischen, haben aber gleichzeitig die Verfertigung tragfähiger Konzepte, wie dieser zu begegnen sei, weitgehend verhindert. Politik schien zuletzt der bloße Kampf überkommener Eliten gegen einen populistischen Herausforderer, kurzum: eine Haider-Verhinderungs-Veranstaltung. Ein fataler Zirkel: Weil Ideen und Konzepte fehlen, steigt die Verunsicherung; davon profitiert Haider wiederum mit seinen chauvinistischen Parolen.

2. Das Ende des Kalten Krieges hat Österreich in eine schwere Identitätskrise gestürzt; in den Nachkriegsjahren wurde keine Staatsidee entwickelt, die deren Ende hätte überdauern können. Im Vergleich mit der Bundesrepublik wird dies deutlich: Bei allen Deformationen, eines der grundlegenden Identitätsmerkmale der deutschen Halbstaaten, DDR wie BRD, war die Integration in supranationale Strukturen – hie Warschauer Pakt und RGW, da Nato und Europäische Gemeinschaft. Das Ende der Nachkriegszeit konnte so – in Form der Vereinigung – ohne große nationale Aufwallungen als gleichzeitige Integration in neue internationale Bindungen über die Bühne gebracht werden.

In Österreich lagen die Dinge konträr: Die Staatsidee Nachkriegsösterreichs war gerade die internationale Desintegration, die – in Form der verfassungsrechtlich fixierten „immerwährenden Neutralität“ – sogar in quasi sakrale Höhen gehoben wurde. Solange der Eiserne Vorhang Europa durchschnitt, lebte es sich bequem im toten Winkel. Dem Ende der Blöcke folgte dann eine Orientierungskrise, dieser die kollektive Abschottung. Das überraschend deutliche Votum für den EU-Beitritt im Vorjahr muß eher als paradoxer Reflex gewertet werden denn als wirkliche konzeptionelle Umorientierung. Daß Jörg Haiders traditionell deutschnationale FPÖ gerade jetzt die Wende zur patriotisch-chauvinistischen Austro-Partei unternahm, zeugt von Gespür für dieses Dilemma der österreichischen Staatsidee.

3. Die Vorschläge einer unabhängigen Intelligenz, wie diesem zu begegnen sei, blieben dürftig: Die paar Dichter und Denker, die es zum Nachdenken über ihr Land trieb, beschränkten sich meist auf Anti-Haider-Tiraden. Der Romancier und Essayist Robert Menasse nennt dies das „hysterische ,Nazi-Nazi‘-Geblöke der aufgeregten Intelligenz“. Nun gebar dieses Unbehagen eine bemerkenswerte Trendwende: Die pathetischen Anti-Haiderianer der alten Schule, Peter Turrini etwa, Elfriede Jelinek oder Claus Peymann wurden von einer unaufgeregteren Intelligenz abgelöst, die das Phänomen Haider in seiner Ambivalenz zu analysieren sucht; die den Katastrophismus der Alten belächelte und auch paradoxe Positiva des Haiderismus – etwa das Aufbrechen des überkommenen Zweiparteien- und Proporzsystems – verbucht sehen wollte. Manche sahen darin schon ein Erwachsenwerden der österreichischen Intelligenz.

Dabei kippte die örtliche Intelligenzija von der Hysterie in den Opportunismus. Als Haider noch weit davon entfernt war, eine bestimmende Rolle zu spielen, wurde in überdrehten Vokabeln vor der Gefahr gewarnt. Jetzt, wo er erstmals nahe daran ist, seine wenn schon nicht fatale, dann doch zumindest antidemokratische, antizivile und antiaufklärerische Wirkung voll zu entfalten, übt man sich in betulichem Relativismus.

Österreichs Intellektuelle sind entweder getrübten Blickes, dafür aber um so schärferen Standpunktes. Oder sie diffundieren bis zur Standpunktlosigkeit. Beides – angewandte Vernunft plus Haltung – ist offenbar nicht zu haben. Robert Misik