■ Das Streiklicht
: Die tägliche Odyssee

Martine kennt den Streik aus dem Inneren der Blechkarossen. Seit zwanzig Tagen streckt sie am Morgen, wenn es noch eisig kalt und dunkel ist, ihren Daumen aus. Anschließend verbringt sie zwei Stunden in wechselnden Vehikeln, in wechselnder Gesellschaft und mit wechselnden Diskussionen. Gegen neun Uhr kommt sie in der Nähe ihrer Boite an – dem Computerbetrieb in der südlichen Pariser Vorstadt. Acht Stunden später wiederholt sie die Odyssee in der umgekehrten Richtung.

Der Rhythmus von dodo- metro-boulot – Schlafen-Metro- Maloche – ist Martine geläufig. In „normalen Zeiten“ verbringt sie morgens und abends je eine Stunde in der U-Bahn. Sie sitzt wortlos und mit leerem Metro- Blick in einem prall gefüllten Waggon und versucht, sich ein bißchen zu entspannen. Trotz der schlechten Luft und der Ellenbogen, die sie umgeben.

Seit Streik ist, redet sich Martine auf dem Arbeitsweg den Mund fusselig. Sie diskutiert – über Löhne, über patrons, über Arbeitszeiten, die Internationalisierung der Wirtschaft – und manchmal auch über ihr Privatleben. Und sie lernt Leute kennen: Sie hat Kleinwagen ausprobiert, Lkws, eine Luxuskarosse und einmal sogar den Beifahrersitz von einem Motorrad.

Bislang mußte Martine nie länger als ein paar Minuten warten. An der Ampel, wo sie morgens einsteigt, stehen um 7 Uhr Dutzende von Anhaltern. Die meisten haben sich inzwischen wie Martine kleine Kartons gebastelt, die das Reiseziel angeben. Kaum halten sie die hoch, hupt jemand und winkt sie auf den Beifahrersitz. „Die Leute sind unglaublich solidarisch“, sagt Martine, „und unglaublich tolerant“.

Martine würde am liebsten selbst streiken. Aber sie traut sich nicht – aus Angst, gekündigt zu werden. Sie geht zu den Demonstrationen an den Wochenenden. Und diskutiert. Sie steht früher auf als vorher und geht später ins Bett. Aber sie ist besser gelaunt. Am Freitag abend trifft sie ihren Motorradchauffeur an der Bastille. Mit dem konnte sie neulich nicht diskutieren – da hatten beide einen Helm auf. Dorothea Hahn/Paris