: Mehr Handel unter dem Halbmond
Sowohl die EU als auch die Türkei profitieren von der gestern beschlossenen Zollunion. Handel soll um 50 Prozent steigen ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren
Willkommen Europa“, schlagzeilte gestern das Istanbuler Massenblatt Sabah. Der Wunsch des Volkes erfülle sich mit der Aufnahme der Türkei in die europäische Zollunion, die nach der gestrigen Abstimmung im Europaparlament am 1. Januar in Kraft tritt. Die große Mehrheit des Europaparlamentes hat der Zollunion zugestimmt. Die Zollunion ist Hauptthema der Wahlkampfreden der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, die sie als persönlichen Erfolg verbucht. Die Türken stünden vor der Wahl zwischen „Rückständigkeit“ oder „Fortschritt“.
Für die EU-Europäer ist die Zollunion mit der Türkei Ergebnis eines ökonomischen Kalküls, Zugriff auf den bedeutenden und in Entwicklung begriffenen türkischen Markt mit 60 Millionen Einwohnern zu haben. Türkische Politiker und Medien hingegen haben die Entscheidung über die Zollunion als wirtschaftspolitische und ideologische Entscheidungsschlacht über die Zukunft der Türkei präsentiert. Die Zollunion werde die 90prozentige Inflationsrate senken, der Arbeitslosigkeit ein Ende bereiten, die Preise von Kühlschränken und Autos senken, Wohlstand und Brot für alle schaffen – ja mehr noch – demokratische Verhältnisse in der Türkei einführen. Und die Propaganda hat sichtlichen Erfolg gehabt. Einer Meinungsumfrage zufolge unterstützen über 72 Prozent der Türken die Zollunion.
Die Türkei ist das erste Land, das nicht Mitglied der Europäischen Union ist und trotzdem gänzlich die Zölle zur EU aufheben wird sowie die Verpflichtung eingeht, sich an das Außenhandelsregime der EU zu halten. Bereits im Vorfeld hat das Parlament in Ankara eine Reihe von neuen Gesetzen verabschiedet mit dem Ziel, sich an die Wirtschaftsgesetzgebung der EU anzupassen. Ein neues Außenhandelsgesetz und Firmengesetz ebenso wie Gesetze zum Schutz der Konkurrenz. Europäische Exporteure, die bislang jährlich rund 1,5 Milliarden US- Dollar an Zölle zahlen, um Waren in die Türkei einzuführen, können diesen Obulus jetzt einsparen. Es wird geschätzt, daß das Außenhandelsvolumen zwischen EU und Türkei, das sich heute bei 20 Milliarden US-Dollar bewegt auf 30 Milliarden ansteigen wird.
Profiteur auf türkischer Seite ist vor allem die Textilindustrie, die bislang mit einer Quotenregelung in Europa gegängelt wurde. Ihre Exporte in die EU, für die die Textilkonzerne bislang 5 Milliarden US-Dollar erlösten, werden sich aller Voraussicht nach erheblich erhöhen. Agrargüter hingegen sind ausdrücklich von der Zollunion ausgenommen.
Im Gegensatz zu türkischen Politikerreden, daß die Zollunion alsbald Wohlstand für alle schaffen werde, sind sich nahezu alle Wirtschaftsexperten einig, daß im Zuge der Zollunion vielen Klein- und Mittelbetriebe der Garaus gemacht wird. Selbst der türkische Arbeitgeberverband Tüsiad, Sprachrohr der großen Konzerne und aktiver Lobbyist für die Zollunion, gibt in einer Studie zu bedenken, daß die kurz- und mittelfristige Erhöhung der Arbeitslosenquote nach der Zollunion sozialpolitisch abgesichert werden müsse.
Das Ende der siebziger Jahre streng protektionistische Wirtschaftssystem in der Türkei ist nach dem Militärputsch 1980 erheblich aufgelockert worden. Doch bislang waren immer noch einzelne Sektoren durch Schutzzölle geschützt. So werden ausländische Autos mit rund 20 Prozent, langlebige Konsumgüter mit Steuerquoten zwischen drei und 15 Prozent besteuert.
Abgesichert durch Zölle konnten türkische Automobilfabriken mit rückständiger Technologie ihre Waren zu hohen Preisen verkaufen. Dies wird künftig der Vergangenheit angehören. Um den Anpassungsprozeß abzufedern, wurde eine Sonderregelung für Gebrauchtautos erzielt, die im Laufe der nächsten fünf Jahre weiterhin nicht zollfrei in die Türkei eingeführt werden dürfen. Bereits im Vorfeld der Zollunion haben sich allerdings ausländische Automobilkonzerne, die mit modernen Produktionsstätten auf den Export ausgerichtet sind, in der Türkei angesiedelt. Allen voran der Toyota, der im Joint-venture mit dem türkischen Sabanci-Konzern seine türkischen Corollas zollfrei in die EU verkaufen will.
Die Umstrukturierung der Produktionspalette bei den großen türkischen Konzernen fällt umso leichter, als es sich um Mischkonzerne handelt. Neben einzelnen Fabriken, die Nachteile von der Zollunion zu erwarten haben, sind sie in Sektoren tätig, die sich Exportzuwächse von der Zollunion erhoffen. Der Traum der Türken von billigen Geschirrspülern, Waschmaschinen und Autos ist indes realitätsfern. Mit einer Sondersteuer auf „Luxusgüter“ wird sich das Preisniveau erhalten.
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