Wolga, Altai und zurück

■ Kai Ehlers bereiste Rußland und liefert viele Informationen

Beim Thema Rußland jagt hierzulande oft ein Klischee das andere. Schon worum es überhaupt geht, ist meist unklar. Ist die GUS gemeint, die ehemalige Sowjetunion? Geht es um die Russische Föderative Republik? Meint man gar das Rußland der Zarenzeit? Oder die „russische Seele“, den „russischen Charakter“?

Gerade in Deutschland mischen sich in bezug auf den großen östlichen Nachbarn vielfältige Meinungen und Emotionen: Gefühle der kulturellen und wirtschaftlichen Überlegenheit werden erschüttert durch das Bedrohungsszenario, das die antirussische, dann antisowjetische und jetzt wieder antirussische Propaganda in Deutschland seit über 100 Jahren entwirft. Dumpf empfundene, meist uneingestandene Schuldgefühle für die deutschen Verbrechen an sowjetischen Menschen im Zweiten Weltkrieg, für die Deutschland nie zur Rechenschaft gezogen wurde, führen zum Beispiel zu reger Beteiligung an Aktionen wie „Päckchen für St. Petersburg“. Und seit dem Beginn der Perestroika ist es nicht mehr die Stärke der Sowjetunion, die angeblich zur Sorge Anlaß gibt, sondern die Instabilität ihrer Nachfolgestaaten. Gebannt wird wieder nach „Moskau“ geblickt.

Der Hamburger Publizist Kai Ehlers geht einen anderen Weg. Jenseits von Moskau – 186 und eine Geschichte von der inneren Entkolonisierung heißt sein neuestes Buch. Er schreibt über eine sechsmonatige Reise, die ihn 1992 von der Wolga über Sibirien ins Altaigebiet und wieder zurück führte. Doch sei dies, so das Geleit-Wort des Autors, „kein Reisebericht“ und auch „kein Sachbuch“ geworden. Ehlers hat Gespräche und Interviews mit den verschiedensten Menschen geführt. Unterschiedlichste, für das westliche Denken oft ungewohnte Ansichten, Interpretationen und Zukunftsperspektiven hat er aufgezeichnet. Das Buch liefert Informationen, die sonst kaum zu bekommen sind; Informationen zu Themen, die das politische Denken und Handeln in Rußland bestimmen, aber bisher in der offiziellen Politik fast keine Rolle spielen.

Ehlers wagt auch einen Blick in die Zukunft. Den Begriff von Rußland als „Brücke“ zwischen Ost und West benutzt er, um die Idee zu entwickeln, ebendiese „Brücke“ solle nicht zum Versuch der Synthese unvereinbarer Gegensätze, sondern zum Übergang, zum Dialog führen. Hier gerät er in die Randzone der Esoterik und des Spiritualismus. Fakten bleiben außen vor. Was westliche Konzerne, russische Armee und Mafia vom Dialog halten, wird sich zeigen.

Tim Fiedler

Kai Ehlers: Jenseits von Moskau; Schmetterling Verlag, Stuttgart 1994, 304 S.

Im Rahmen der Reihe „Rußland im Wandel“ hält Kai Ehlers heute um 19 Uhr in Ev. Akademie, Esplanade 15, einen Vortrag.