Zwischen Ignoranz und Allmachtstreben

■ In Berlin sind die Selbstmordzahlen rückläufig. Das heißt jedoch nicht, daß das Leben besser geworden ist. Richtig umgehen können wir mit dem Selbstmord noch immer nicht

An den Feiertagen werden die Anrufe bei der Telefonseelsorge wieder in die Höhe schnellen, die Krisenstationen stellen sich auf mehr Arbeit ein. Weihnachtszeit ist Krisenzeit. Wenn es sich andere zu Weihnachten bei den Eltern gutgehen lassen oder sich an Silvester auf Partys amüsieren, wächst bei vielen die Verzweiflung über ihre Einsamkeit. Bei ihrer Jahresbilanz sehen sie sich im Minus. Das wissen die professionellen Anlaufstellen.

Doch zum Jahresende nehmen sich eigentlich nicht mehr Menschen das Leben als im Jahresdurchschnitt, und seit fünfzehn Jahren sinkt die Zahl der Selbstmorde kontinuierlich. Im Jahr 1994 töteten sich 567 Menschen selbst, doppelt so viele Männer wie Frauen. Noch vor fünfzehn Jahren hatte Berlin einen traurigen Rekord inne: Im Jahre 1980 lagen die offiziellen Zahlen um vierzig Prozent höher, nämlich bei 962. Damit war Berlin im bundesdeutschen Vergleich Spitzenreiter.

Grund zur Entwarnung also? Ein Ende dem Helferkomplex?. Wie die rückläufigen Zahlen zu erklären sind, weiß niemand genau. Einig sind sich Psychologen nur darüber, daß das Leben in Berlin nicht einfacher geworden ist, eher die Statistik komplizierter.

Der Geschäftsführer der Telefonseelsorge, Jürgen Hesse, geht davon aus, daß die Statistik seit jeher nur ein Drittel der tatsächlichen Suizide erfaßt. „Die Zahlen entsprachen noch nie der Wirklichkeit. Viele Selbstmorde verbergen sich hinter ungeklärten Todesursachen, deren Zahl immer höher wird. Suizide werden entweder nicht als solche erkannt oder aus Versicherungsgründen kaschiert“, sagte er.

Seine Einrichtung kann sich nicht über wenig Arbeit freuen. Seit zwanzig Jahren wenden sich täglich ungefähr 60 AnruferInnen hilfesuchend an die Telefonseelsorge. Ein bis zwei haben bereits zu diesem Zeitunkt ihren Selbstmord konkret eingeleitet. Trotzdem übt sich Hesse nicht nur in Zweckoptimismus, wenn er in den zurückgehenden Selbstmorden eine erfreuliche Entwicklung ausmacht. „Die Leute geraten genauso oft wie früher in suizidale Krisen, doch gibt es immer mehr Möglichkeiten, sie aufzufangen.“

Der Psychologe Hesse weiß um die Macht des Gesprächs und daß es möglich ist, einen Menschen von seinen Selbstmordabsichten abzubringen. Freitod gibt es nicht. Menschen nähmen sich aus einer unglücklichen Situation heraus das Leben, wenn sie im Beruf oder in der Partnerschaft nicht klarkommen. Deswegen wundert er sich über die mangelnde Aufklärung und Tabuisierung, die der Selbstmord noch immer in der Gesellschaft erfahre. Unverständlich ist ihm, daß das Thema nicht im schulischen Lehrplan stehe.

Michael Witte, Sozialarbeiter bei NEUhland, macht dagegen eine größere Akzeptanz des Selbstmordes in der Gesellschaft aus. Doch unverständlich sind ihm die Unterschiede, die in der Wertung zwischen den Suiziden von jungen und von alten Menschen gemacht werden, zwischen gesunden und kranken. „Das sagt viel über unseren Umgang mit alten und kranken Menschen aus. Ich glaube, da stiehlt sich die Gesellschaft aus der Verantwortung.“

Seine Kollegin Petra Straube hält die gesellschaftlichen Probleme im Umgang mit dem Selbstmord für zweitrangig. Viel entscheidender sei, daß Menschen vielfach immer noch nicht auf der persönlichen Ebene damit umzugehen gelernt hätten.

Angehörige und Freunde werden von Schuld- und Schamgefühlen getrieben, einige tarnten sogar den Selbstmord aus Furcht, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Andere sprechen sich von vornherein von jeglicher Verantwortung frei. „Sich individuell zur eigenen Verantwortung zu bekennen, ist für viele sehr schwer.“ Die Psychologin hat schon Eltern erlebt, die nach dem Selbstmord ihres Kindes sagten: „Wir haben schon immer gesagt, der schafft das nicht.“

Haben also Angehörige oder FreundInnen versagt, wenn sie einen Selbstmord nicht verhindern konnten? Immerhin werden fast 80 Prozent aller Suizide vorher angekündigt. Straube weiß zwar, daß die meisten Selbstmordgefährdeten für konkrete Hilfe empfänglich sind, doch häufig könne auch dann ein Selbstmord nicht vereitelt werden. „Es grenzt an Allmachtsstreben, einen Selbstmord unbedingt verhindern zu wollen. Damit wird anderen das Recht abgesprochen, selbst zu entscheiden und zu handeln.“

Das muß auch Jürgen Hesse zugeben: „Hundertprozentig verhindern läßt sich ein Selbstmord nur mit den Zwangsmitteln der Psychiatrie.“ Thekla Dannenberg