Ticket nach Naxos

■ Vom jahrelangen Meißeln am südländischen Märchenprinzen

Sechs Jahre meißelte Susanne an ihrem Prinzen.

Im ersten stößelte sie seine schweigsamen Lippen auseinander –

im zweiten wetzte sie ihm den wilden Bart –

im dritten schliff sie ihm die egoistischen Arme –

im vierten hämmerte sie auf seine herrischen Hüften ein –

im fünften Jahr schrumpften die balligen Waden –

im sechsten fetzte sie ihm die Sporen weg –

im siebten Jahr wurde der Prinz poliert.

Susanne betrachtete ihr Werk. Und siehe: Kalt und sauer kippte sie den Rest vom Sockel.

Wochenlang saß Susanne auf ihrer laubfarbenen Yogadecke, schlürfte Schamanentees, roch an Bachblüten und befragte den Spiegel: Wer bin ich? Der aber stotterte: Dein Bauchspeck spricht Bände, Susanne, du mußt an dir arbeiten.

Lies, Frau, lies, sprach die Freundin. Susanne las: Du bist, was du ißt. Makrobiotisch? Trennkost? Gar nichts?

Häng nicht rum, Susanne, sprach die Kollegin, ertanze dir deine Mitte. Also ab zum Bauchtanz.

Auch nichts geholfen? Vielleicht sollten wir mal hyperventilieren. Nein, da falle ich in Ohnmacht.

Soll ich mir ein Baby machen lassen? Himmel! Ich bin reif für die Couch. Aber ich will's schneller.

Trennungstherapie? Unsinn, hab' den Prinzen doch längst vergessen.

Gut, sagte Susanne, jetzt lass' ich mich gehen, zum Sex-Workshop mit diesem wilden Guru und seinen fünf Tibetern. – Das Gelbe wurde es auch nicht.

Dann starb die greise Großmutter, mit einem Rätsel auf den Lippen: Susi, vergiß deinen Süden nicht. Ein Los brachte die Lösung. Auf der Lehrertombola zog Susanne das Ticket nach Naxos.

„Antonis heißt mein Fischer, und er ist nicht aus Marmor, wie Eure Männer im Norden“, schreibt sie ihren Freundinnen. Nein, er ist warm und dunkel, ihr Südmann. Schweigsam, wild, egoistisch, herrisch, muskulös und ungeschliffen.

Jeden Sommer wieder, zu den Schulferien, fliegt Susanne ein. Sie gibt die Zeit vor, und er ihr die Sporen. Ab durch die selige Mitte. Der nächste Winter kommt gewiß. Uwe Wandrey