Provinzialismus der Metropolen

■ Wie das Zoll- und Handelsabkommen Gatt indische Bäuerinnen enteignet: Ökofeministische Gedanken über Selbstbestimmung und Weltwirtschaft

Seit Jahrtausenden wissen indische Bäuerinnen und Bauern die schädlingsbekämpfenden Eigenschaften des Neem-Baumes zu nutzen. Neuderdings verbietet ihnen jedoch das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen Gatt den Zugriff auf die Pflanze: Aus dem kollektiven Eigentum der Inderinnen und Inder ist 1994 der Privatbesitz des US-Amerikaners Larson geworden. Er hat aus dem Neem-Samen angeblich eine Komposition „erfunden“ und vor dem US-Patentamt als chemiefreies Pestizid angemeldet. Heute müssen Indiens BäuerInnen das Produkt ihres Wissens und ihrer Arbeit von einem amerikanischen Saatgut-Multi käuflich erwerben.

Ein Großteil der ländlichen Bevölkerung Indiens hat dieser Form des Bio-Imperialismus den Kampf angesagt. Das greifen die alternative Nobelpreisträgerin Vandana Shiva und die Kölner Soziologin Maria Mies in ihrem Buch „Ökofeminismus“ auf. Sie liefern feministische Theorie, schreiben aber nicht explizit für ein akademisches Publikum. Shiva und Mies verstehen sich vielmehr als activist scholars: Sie haben empirisches Material über die Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik auf die Bevölkerung – insbesondere auf Frauen als Subsistenzproduzentinnen – analysiert und veranstalten Seminare für Bauern- und Konsumentenorganisationen. Auch in ihrem Buch ergreifen sie Partei für die Subsistenz – für die Möglichkeit also, das Leben unabhängig von Kapitalinteressen (re-)produzieren zu können.

Die ausgestiegene Atomphysikerin und die emeritierte Professorin agitieren nicht ohne Erfolg: So wurden schon manche Vertreter multinationaler Konzerne aus indischen Dörfern vertrieben, und die von Maria Mies mitinitiierte Kampagne „Kein Patent auf Leben“ erreichte, daß die „Richtlinie zum Schutz biotechnologischer Erfindungen“ das Europaparlament am 1. März dieses Jahres nicht passierte.

Highlights der aus dem Englischen übersetzten Textsammlung sind Shivas Kapitel über das Gatt sowie Mies' Analyse des modernen Selbstbestimmungskonzepts. Sie bewegt sich dabei zwischen Simone de Beauvoirs Emanzipationstheorie mit ihren Anleihen an Hegels „Herr-Knecht-Denken“ und der Enteignung der Nahrungsmittelproduzentinnen durch multinationale Konzerne.

„Wir türken doch keine Rechnungen“

Das zentrale Thema des Buches ist die Unvereinbarkeit der Freiheit des Agrobusiness mit der Freiheit der Frauen, über ihr Leben zu bestimmen. Die Kolonisierung des Saatgutes durch weiße Multis findet ihre Entsprechung in der Kolonisierung des Körpers durch den Kopf, der schwarzen Bäuerin durch die weiße Konsumentin und der Natur durch den „Ökokapitalismus“.

Shiva und Mies liefern einen genuinen Beitrag zur Anti-Rassismus-Debatte, die sonst in den Diskussionszirkeln der Restlinken (die EU und Gatt für Symbole einer Neuen Internationalen zu halten scheinen) und des Feminismus ein idealistisches Dasein fristet: losgelöst von jeglicher Ökonomiekritik und reduziert auf reine Verhaltens- und Kulturelle-Muster-Ebenen. Begriffe wie „Schwarzweißmalerei“ oder „Rechnungen türken“ werden mit unnachahmlicher Akribie enttarnt – die weltwirtschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer solche rassistischen Vokabeln erst erfunden und materialisiert werden, stehen jedoch nicht zur Disposition. Der Provinzialismus der mittelschichtsdominierten Metropolen nimmt kaum zur Kenntnis, daß die globalisierten Strukturanpassungen in anderen Teilen der Welt gerade Frauen in erbarmungsloser Weise bedrohen. Bei derlei Defiziten zu empfehlen: Ökofeminismus. Christa Müller

Maria Mies/Vandana Shiva: „Ökofeminismus. Beiträge zur Praxis und Theorie“. Zürich 1995, Rotpunkt-Verlag, 426 S., 38 Mark