Rotbäckchen und Storchenbein

Bloomsbury-Boheme II: Christopher Hamptons Film „Carrington“ erzählt die Geschichte der Malerin Dora Carrington und ihrer seltsamen Liebe zu dem Literaten Lytton Strachey  ■ Von Anja Seeliger

„Strachey mit seinem gelben Gesicht und Bart. Ugh!“ Soweit bekannt, war dies Carringtons erster Kommentar zu Lytton Strachey. Es war das Jahr 1915. Carrington, Malerin, war 22 Jahre alt und zu Besuch auf dem Landsitz der Morells. Wenige Tage später berichtete sie ihrer Freundin Barbara Hale empört, daß „dieser abscheuliche alte Mann mit dem Bart mich geküßt hat“. Strachey, Literaturkritiker und Biograph, war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt. Ihre Freundin versicherte Carrington, daß weitere Avancen wohl nicht zu befürchten seien, und als Carrington nicht verstand, buchstabierte Barbara kichernd das Wort H-O- M-O-S-E-X-U-E-L-L. „Was ist das?“ fragte Carrington.

Barbaras Erklärungen konnten sie nicht besänftigen. Am nächsten Morgen stand sie in aller Herrgottsfrühe auf und schlich sich, mit einer Schere bewaffnet, in Stracheys Schlafzimmer – um ihm den Bart abzuschneiden. Zur Strafe für sein ungebührliches Benehmen. Aber der Plan mißlang. „Als sie sich über ihn beugte, öffnete Lytton seine Augen und sah sie an“, schreibt Stracheys Biograph Michael Holroyd. „Es war ein Moment von seltsamer Intimität, und sie, die so viele andere hypnotisiert hatte, war plötzlich selbst hypnotisiert.“ Carrington steht also mit der Schere in der Hand über dem Bett, den Bart schon in der Hand, plötzlich zögert sie. Sie sieht auf das bärtige Gesicht, das so friedlich auf dem weißen Kissen ruht, und kann und kann die Augen nicht abwenden. Als Strachey aufwacht, erschrickt er nicht. Er brüllt sie auch nicht an oder versucht, sie ins Bett zu ziehen, wo sie schon mal davorsteht. Er liegt ganz ruhig da, ohne Angst, als würde sie jeden Morgen so über ihn gebeugt stehen. Er liegt einfach da und sieht sie an. Aber man kann nie wissen. Vorsichtshalber ertönt sanft klagende Violinenmusik, die singt: ein Moment seltsamer Intimität. Jemand hätte Christopher Hampton auf die Finger hauen sollen.

„Dora Carrington hatte gerade die Slade-Akademie für Malerei verlassen, wo sie mehrere Auszeichnungen erhalten hatte und als vielversprechende Künstlerin betrachtet wurde. Dies ist die Geschichte ihres Lebens.“ Der Vorspann zu Hamptons Film „Carrington“ verspricht eine Carrington-Biographie. Aber er hält sein Versprechen nicht. Carrington war keine Schönheit. Sie war groß und kräftig, mit einem dicken Wust goldbrauner Haare, die sie so kurzgeschnitten trug, daß man ihren Nacken sehen konnte, leuchtenden blauen Augen und unbeholfenen Bewegungen. Ottoline Morell gemahnte sie an „ein wildes Moorland-Pony“, und Virginia Woolf meinte freundlich: „Sie ist ein so geschäftiges, eifriges Geschöpf, so rot und stabil und gleichzeitig wißbegierig, das man nicht umhin kann, sie zu mögen.“ Das klingt nicht sehr vielversprechend, aber Carrington hatte etwas, das die Männer um den Verstand brachte. Sie war in einem typischen viktorianischen Haushalt aufgewachsen. Für ihre Mutter wäre „die Erwähnung von Sex oder der gewöhnlichen körperlichen Funktionen undenkbar“ gewesen, erinnerte sich ihr Bruder Noel. Carrington haßte ihre Mutter für die Art, wie sie alles, was schön, groß und leidenschaftlich war, auf „Nebensächlichkeiten“ reduzierte. Die unbegreifliche Zimperlichkeit dieser Zeit beschränkte sich nicht nur auf bürgerliche Kreise. Holroyd beschreibt, wie Ottoline Morell, die dem Adel angehörte, aber ein unkonventionelles, für Künstler offenes Haus führte, einmal den Wunsch äußerte, Joseph Conrad kennenzulernen. Der Gentleman neben ihr war schockiert: „Aber liebste Dame... Er ist zur See gefahren... Er hat niemals ,zivilisierte Frauen‘ kennengelernt.“ Man stelle sich vor: Der besorgte Gentleman war der Schriftsteller Henry James.

Als Carrington mit Strachey zusammenzog und offen mit ihm zusammenlebte, war das selbst in den Künstler- und Intellektuellenkreisen um Bloomsbury ein einzigartig radikaler Schritt. Zwar hatten sie alle Affären, aber der Schein wurde gewahrt. Ab einem bestimmten Alter war eine Ehe unumgänglich. Die Kehrseite der Medaille war, daß Carrington vollständig von Strachey abhängig wurde. Wenn er sie fallengelassen hätte, wäre sie nicht nur ein gesellschaftlicher Outcast gewesen, sondern hätte auch ohne einen Pfennig dagestanden.

Kein Wort von all dem im Film. Hampton kann die Geschichte einer unkonventionellen Frau nicht erzählen, weil er die Konventionen nicht beschreibt, gegen die sie verstößt. Bleibt die Geschichte einer jungen Frau, die sich in einen Homosexuellen verliebt und ihr Unglücklichsein mit einer Reihe von Affären zu betäuben sucht.

Carringtons „überwältigende Bewunderung“ für Strachey war Virginia Woolf ein absolutes Rätsel. Und damit stand sie nicht allein. Strachey war der häßlichste Mann, den die Welt je gesehen hat. Er war unwahrscheinlich lang und Seine spindeldürren Gliedmaßen veranlaßten Zeitgenossen zu glauben, er litte an Auszehrung. Er hatte eine große Nase, katastrophale Zähne und ein wenig eindrucksvolles Kinn, das er unter einem Vollbart versteckte, der knapp die Brust berührte. Das auffallendste Merkmal war ein Mangel an physischer Vitalität: „Er hing schlaff durch, wenn er aufrecht stand, und sank zusammen, wenn er sich setzte. Um ihn war eine Aura von Kraftlosigkeit und Schwäche“, beschrieb ihn der Verleger Frank Swinnerton. Jonathan Pryce' Darstellung ist ein Wunder. Nicht, weil sein Lytton trotz seiner immensen Häßlichkeit anziehend wirkt – daß Schauspieler Charaktere darstellen können, ist nichts Neues. Aber noch nie habe ich gesehen, wie sich vor meinen Augen ein mittelgroßer, kräftiger Mann in einen langen, dürren verwandelt. Pryce hat eine Art zu gehen, daß man glaubt Storchenbeine zu sehen, obwohl er von normaler Statur ist. Wenn er sich im Sessel zurechtsetzt, glaubt man, daß die Gliedmaßen, die da mit größter Delikatesse neu arrangiert werden, unendlich lang sind, obwohl man sieht, daß sie gerade mal Mittelmaß haben.

Carrington war der festen Überzeugung, daß man mehrere Menschen zur selben Zeit lieben kann. Sie zumindest konnte es. Aber keiner der Männer, die in sie verliebt waren, gab sich damit zufrieden. Irgendwann wollten sie alle Stracheys Platz einnehmen. Und daß sie dieses groteske, kränkliche Spinnenbein nicht verdrängen konnten, machte einige von ihnen komplett verrückt. Hampton erzählt die Geschichte der vier wichtigsten Liebhaber in Carringtons Leben, aber bei ihm bleibt sie merkwürdig prüde. Carrington, will Hampton uns weismachen, hatte ihre Affären, weil Strachey sie nicht so lieben konnte, wie sie ihn. Das stimmt zwar, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Carrington, Strachey und der ganze Kreis drumherum experimentierte mit der Liebe, wie es selbst heute kaum vorstellbar ist. Nichts davon bei Hampton. Statt dessen sehen wir die unendlich konventionelle Figur einer Frau, die sich zwar Freiheiten herausnimmt, aber eigentlich nur einen liebt.

„Carrington“ von Christopher Hampton. Mit: Jonathan Pryce, Emma Thompson, Steven Waddington u.a. GB 1995, 124 Min.