■ Fazit des Übergangs – Rußland vor den Duma-Wahlen
: Ein unfertiges Volk

Rußland wählt, ohne die Wahl zu haben. Jedes Abweichen vom Reformkurs, jeder neuaufgelegte alte Zwist, jeder Aufschub verschärft die Krise nur. Rußland ist noch keine Demokratie, aber schon demokratisch.

Die Menschen haben noch ein gehöriges Stück in Richtung Demokratie zurückzulegen. Es fällt ihnen sichtbar schwer, aber trotz allem kommen sie voran. Der Systemwechsel in Rußland vollzieht sich schmerzhafter als in den anderen Ländern des sozialistischen Blocks. Nicht unbedingt langsamer, schaut man auf die einzelnen Sektoren, in denen Wandel vonstatten geht, eher diachron. Rußlands Umbruch ist mehr als ein Austausch ordnungspolitischer Koordinaten. Der Unterschied ist gravierender: Rußland muß sich parallel zur Strukturveränderung von sich selbst befreien. Das verursacht kolossale Schmerzen und verführt den Therapeuten nicht selten, den Ort der Schmerzen auch für den Krankheitsherd zu halten. Proportional zur Schwierigkeit der Probleme neigt der öffentliche Diskurs zur Vereinfachung. Kaum eine politische Kraft, die sich dem entziehen könnte. Die letzten Monate haben es in aller Deutlichkeit gezeigt. Von links bis rechts hämmerte man wie wild auf der Klaviatur des Nationalen. Eine nüchterne Bestandsaufnahme des nationalen Interesses hätte am Ende der Sache besser gedient. Rußland leidet wieder darunter, daß es nicht geliebt wird. Und wie will es geliebt werden! Es schreit geradezu nach Zuneigung. Gleichzeitig verlangt es, daß man es so nimmt, wie es ist. Alles andere lehnt es ab. Die Enttäuschung führt zur Verurteilung. Rußland weigert sich, einen Weg des Kompromisses zu gehen. Alles oder gar nichts, noch herrscht der Maximalismus. Stärke gilt bis auf den Tag mehr als Besonnenheit, auch Kompetenz kann sie nicht ersetzen. Mehr als anderswo gehört die Wahrheit zu den Sekundärtugenden, während Wahrsagen und Täuschen als besondere Fertigkeiten gelten.

Dies ist ein kultureller Unterschied, der nicht übersehen werden darf, da er sich aus anderen Quellen speist als nur den siebzig Jahren Kommunismus. Starke Kräfte wollen sich nicht von ihrer eingebildeten Mission lösen, anderen Völkern Heil zu bringen. Sie halten sich tatsächlich für bessere Menschen, anderen weitaus überlegen. Die Bereitschaft, hinzuschauen, wertzuschätzen, aufzugreifen, mitzudenken – all das findet wenig Anklang. So etwas gestaltet sich mühevoll, und der Erfolg läßt sich nicht voraussagen. Wo in anderen Gemeinwesen Scham und Empörung die Individuen an selbstreflektierte Grenzen binden, kennt Rußland nur Verletzt- oder Beleidigtsein. Der Tschetschenien-Konflikt führte das lebhaft vor Augen.

Nach wie vor fehlt es an einem ethischen Grundmuster, das ein Mindestmaß an Identifikation erlaubt. Das Gefühl von Peinlichkeit ist an Macht gekoppelt: Mir ist etwas peinlich, wenn ich dadurch an Einfluß verliere. Das Individuum leidet nicht für sich selbst ob eigener Verfehlungen. Daher treffen wir in Rußland auf eine unbegrenzte Zahl von Quasimoralen. Jeder macht sie für sich aus. Gemeinsam ist ihnen nur eins: ihr kontraktualistischer Charakter. Der einzelne hält sich um seines Vorteils wegen für eine gewisse Zeit und ein bestimmtes Handeln an eine Absprache, um seines erwarteten Ergebnisses nicht verlustig zu gehen. Diese Moral kann sich in einem anderen Kontext indes als kontraproduktiv erweisen. So tauscht man sie aus. Langsam beginnt sich daran etwas zu ändern, mit dem Einzug der Marktwirtschaft und der Teilnahme immer breiterer Kreise in ihr. Je weiter sich die Wirtschaft ausdifferenziert, desto mehr Vertrauensvorschuß muß zwangsläufig geleistet werden. Sonst funktioniert das System nicht.

Focussieren wir den Blick auf die politische Landschaft, insbesondere auf das Parlament, erkennen wir diesen Wandel nicht sofort. Hier haust noch die Quasimoral. Der russische Parlamentarier ist so frei wie kein anderer. Rechenschaftslos gegenüber seinem Wähler und ungebunden gegenüber seinem Gewissen. Noch immer bedeutet der Sprung in die Staatsduma günstige Gelegenheit zur Bereicherung. Das ist nicht etwa ein Vorurteil des einfachen Russen. Womöglich würde er nach den gleichen Motiven verfahren. Präpubertäre Maulhelden faseln von Rußlands Mission, meinen aber ein besseres Leben für sich und die Ihren. Interessant: Verbesserung wird in Kategorien des Extensiven gedacht, nicht wie man von einer Industriegesellschaft erwarten sollte – etwa durch Intensivierung. Diese Leute sind bar jedes Verantwortungsgefühls. Ihre Grobschlächtigkeit interpretieren sie als Stärke, besonders gut kommt es an, wenn solche Charaktere ihren Selbstnutzen noch in blumige Wortkaskaden hüllen können. Jeder Russe kennt sie und braucht sie nicht zu entlarven, aber dennoch werden sie gewählt. Das ist das Wunder. Im Endeffekt aber nur eine Klassenfrage. Räubern überläßt man den Markt. Kolchosdirektoren verhindern die Privatisierung der Landwirtschaft, aus Angst, Amerikaner oder Westdeutsche würden den Boden aufkaufen! Sie schreiben Betrieben eine Effektivität zu, daß jeder sich vor Lachen schütteln muß. Sie wollen einfach ihre Wodkasklaven nicht in die Freiheit entlassen. Nach der Devise: Immer noch besser zehn versoffene Sklaven, als sich selbst ernähren müssen. Sinn und Verstand sind noch nicht auf Widersprüche geeicht, nur Unterschiede nehmen sie wahr. Und die minutiös, denn der einst ewige Mangel hat eine neidbesessene Kleinlichkeit gefördert, die der tiefen Seele wie eine Gräte im Halse steckt. Wir können nur hoffen, daß die Kräfte der russischen „Besonderheit“ kein überwältigendes Mandat erhalten. Denn sie schicken das Volk zurück in die Selbstbescheidung mit Hilfe der orthodoxen Kirche, deren Bärte schon immer in der Butter hingen.

Denn unterm Strich ist es das, was sie unter „ausgewählt sein“ verstehen: ein unfertiges Volk, das sich ausbeuten läßt und für die Interessen einer Staatlichkeit ins Feuer geht, um eine Schicht von Schmarotzern zu ernähren. Nie wagte es einen Anspruch auf Recht anzumelden. Wir warten auf die Zeit, wenn nicht mehr nur Benachteiligung und das Gefühl des Übervorteiltseins einziger Handlungsantrieb ist. Die Jugend bis 20 hat sich davon schon frei gemacht, nur findet sie kein Ohr in der Politik und sucht auch nicht den Kontakt. Sie ist freier und ungebunden, selbstbewußt und zukunftssicher. Eine Generation, wie sie Rußland noch nie gesehen hat. Doch bei diesen Wahlen tritt das Alter gegen die Jugend an. Eine Generation, die sich vom Totalitarismus nicht mehr löst und der festen Überzeugung ist, im Recht zu sein, wenn sie der Jugend die Zukunft verbaut. Klaus-Helge Donath