Ohne Weitsicht am Kreidefelsen

Zum Ende des Europäischen Naturschutzjahres steigt die Zahl wohlgesetzter Worte, doch sie vernebeln staatliche Untätigkeit im Naturschutz  ■  Von Hermann-J. Tenhagen

Berlin (taz) – Bundesumweltministerin Angela Merkel (CDU) hat das Pferd gestern auf Rügen von der richtigen Seite aufgezäumt. „Mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, daß Naturschutz nicht auf Reservate beschränkt bleiben darf, sondern auf hundert Prozent der Fläche verwirklicht werden muß“, sagte die Ministerin zum Abschluß des Europäischen Naturschutzjahres.

Allein, die Worte der Ministerin bleiben im Bonner Kabinett ohne Widerhall. Vor allem die mit Pferden durchaus vertrauten Ressortminister Theo Waigel (Finanzen) und Jochen Borchert (Landwirtschaft) verhindern Fortschritte beim Bundesnaturschutzgesetz. Und sogar in ihrem Heimatwahlkreis in Rügen sind CDU-Politiker der Meinung, daß der Naturschutz die Ferieninsel nicht als Urlaubsparadies, sondern als rückständig bekannt machen würde.

Jochen Flasbarth, Präsident des Naturschutzbundes (Nabu), kritisierte Merkel denn auch bei der Abschlußfeier des Europäischen Naturschutzjahres auf Rügen, weil die Ministerin nach wie vor keinen Zeitplan für das Naturschutzgesetz vorlegen könne. „Man kann nicht von der bedrohten Artenvielfalt sprechen, ohne deutlich zu sagen, wann denn nun endlich die seit zehn Jahren verschleppte Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes erfolgen soll.“ Schon Merkels Vorgänger Klaus Töpfer war zweimal beim Versuch gescheitert, ein Naturschutzgesetz durchs Kabinett zu bringen. Die Bauernverbände bestanden darauf, daß eine Landwirtschaft mit Kunstdünger und Giftspritzen ordnungsgemäß sei und gar nicht im Widerspruch zum Naturschutz stehen könne. Einschränkungen ihrer Spritzfreiheit wollen sie nur bei finanziellen Kompensationen hinnehmen.

In vielen Bundesländern sieht es nicht besser aus. Flasbarth warf ihnen vor, sich beim Naturschutz finanziell nicht genug zu engagieren. 50 Pfennige pro Kopf wird für den Naturschutz ausgegeben.

In Mecklenburg-Vorpommern hat die Koalition aus SPD und CDU Krach um den Naturschutz bekommen. Die SPD-Fraktion im Landtag stoppte in dieser Woche den Gesetzentwurf der großen Koalition und mahnte Nachbesserungen an. Das vom Landwirtschaftsminister Martin Brink (CDU) erarbeitete Gesetz versuche den Naturschutz zu beschneiden, statt ihn zu sichern, so der SPD-Abgeordnete Henning Klostermann. Ein anderes Beispiel: Zur Umsetzung der Flora-Fauna-Habitat- Richtlinie der EU müssen die Bundesländer Listen schützenswerter Gebiete erstellen. Die Schutzregelungen dieser im Netzwerk Natura 2000 geführten Flächen gehen weit über das in Deutschland geltende Niveau hinaus. Als die Landesregierungen dieses begriffen, nahmen sie etliche schon bestehende Listen unter Verschluß. Europäisches Naturschutzjahr 1995.