Der Genozid an den Armeniern wird enttabuisiert

■ Aus wirtschaftlichem Kalkül will Ankara die Beziehungen zu Jerewan verbessern

„Türkische Nationalidentität und die armenische Frage“ lautete der Titel des Vortrags. Ganz unbekümmert hatten Studenten des Fachbereichs Geschichte der Hacettepe-Universität den Historiker Taner Akcam nach Ankara eingeladen. Rund 400 Studenten waren erschienen, und obwohl sie Ungeheuerliches zu hören bekamen, lauschten sie dem Redner ganz andächtig. Vom „Völkermord an den Armeniern“ und vom „türkischen Schweigen“ war die Rede. Inhalte, die nicht nur der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung zuwiderlaufen, sondern auch für politischen Sprengstoff in der türkischen Gesellschaft sorgen, in der das Massaker vor 80 Jahren als Tabu gilt.

Bei den von der osmanischen Regierung während des 1. Weltkrieges angeordneten Massendeportationen wurden über eine Million Armenier ermordet. Die Mittelmächte, allen voran Deutschland, duldeten den Genozid des Bündnispartners. Die Armenier galten als „Verräter“, als „fünfte Kolonne“ des Kriegsgegners Rußland.

Diese Sichtweise, hat sich bis heute erhalten – Geschichte als Dolchstoßlegende: die Armenier als Volk, das den Türken in den Rücken fällt. In den vergangenen Jahren verbreiteten Einpeitscher in den türkischen Medien, getötete Guerilleros der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seien nicht beschnitten, also keine Muslime, sondern christliche Armenier gewesen. Die wenigen zehntausend Armenier türkischer Staatsangehörigkeit sind immer wieder Diskriminierungen durch die Medien und nationalistische türkische Politiker ausgesetzt.

Doch seit einiger Zeit werden Tabus angekratzt. Die Romane des armenischen Schriftstellers Migirdic Margosyan, der in Istanbul lebt und multilulturelle Szenen kurdisch-armenisch-türkischen Zusammenlebens in Diyarbakir rekonstruiert, erfreuen sich großer Beliebtheit. Als die theoretische Zeitschrift Birikim einen Sammelband über „Ethnische Identität und Minderheiten“ veröffentlichte, war sie schnell ausverkauft, und eine zweite Auflage mußte erscheinen. Der Band ist eine Art Gesamtabrechnung mit dem türkischen Nationalstaat und seinem Umgang mit Minderheiten.

Mit Unterstützung des Hamburger Instituts für Sozialforschung will Taner Akcam in Istanbul ein Archiv und Dokumentationszentrum zur neueren türkischen Geschichte eröffnen. Die Übergangsperiode vom multinationalen und multireligiösen Osmanischen Reich zum homogenen türkischen Nationalstaat soll archiviert und dokumentiert werden. Auch Sozial- und Kulturgeschichte vom Zusammenleben der Völker, das schließlich in dem grausamen Genozid von 1915 an den Armeniern mündete.

Der Zerfall des Osmanischen Reiches war begleitet von Verlust and Land und Bevölkerung. Ob Bulgaren, Serben oder Griechen – sie kehrten dem Sultan den Rücken zu und erkämpften staatlich- nationale Unabhängigkeit. Die Zerstückelung des Reiches war Trauma der Herrschenden. Es war dieses Trauma und nicht eine explizite Ideologie oder gar Rassismus, die dazu führte, daß das jungtürkische Triumvirat kaltblütig den Völkermord vorbereitete und durchführte.

Das Trauma von der Zerstückelung des Staates bestimmt bis heute türkische Politik. Unentwegt malen türkische Politiker das Gespenst eines unabhängigen kurdischen Staates an die Wand. Die Leugnung kurdischer Identität und die brutale Unterdrückungspolitik sind nicht zuletzt Folge der Wahnvorstellung vom Untergang des Staates. „Falls es keine Aufarbeitung und keinen Frieden mit der eigenen Geschichte gibt, wird es auch keinen Frieden mit den Kurden geben“ sagt Akcam. Er begreift das Projekt Vergangenheitsbewältigung als Hebel, um im aktuellen kurdischen Konflikt nach einem Dialog zu suchen.

Einige Erlebnisse im Rahmen seiner Arbeit kann Akcam nicht vergessen. Die Worte des Leiters des Zorian-Instituts in Kanada, Sarkissian, den er auf einem Symposium in der armenischen Hauptstadt Jerewan traf, fallen ihm ein. Ein türkischer Muslim namens Haci Halil hatte während der Deportation das Leben der Großeltern von Sarkissian gerettet. Sarkassian schloß seinen Vortrag mit den Worten: „Ich strecke meine Hände den Türken entgegen. Sie hatten vielleicht Mörder in ihrer Regierung. Aber es gab viele fromme Muslime wie Haci Halil. Laßt uns die Haci Halils vermehren.“

Sarkissian steht mit dem Wunsch nach Versöhnung nicht allein. Auch die offizielle armenische Politik sucht den Dialog mit der Türkei. Sogar der Abschnitt über den Völkermord in der armenischen Verfassung wurde in diesem Jahr auf Bestreben des armenischen Präsidenten Ter Petrossian gestrichen.

Skurrilerweise ist das kleine, arme Armenien wirtschaftlich auf die Türkei angewiesen, die seit Jahren Armenien wegen des aserbaidschanisch-armenischen Konflikts um Berg-Karabach boykottiert. Der von der Türkei geschlossene Grenzübergang zu Armenien ist entscheidend für die Westintegration des Landes. Bereits heute wird Jerewan mit türkischen Waren überschwemmt, die über den Iran ins Land gelangen. Und armenische Koffertouristen, die nicht direkt in die Türkei reisen können, besorgen sich im türkischen Konsulat im georgischen Tbilissi ein türkisches Visum. Auf der anderen Seite fordern türkische Kleinhändler entlang der türkisch-armenischen Grenze, daß der Grenzübergang geöffnet wird.

Jahrelang stieß Armenien mit der Forderung nach ökonomischer Kooperation auf taube Ohren in der Türkei. Doch in diesem Jahr sind Zeichen eines Wandels zu erkennen. In vollem Einverständnis mit dem türkischen Außenministerium reiste der Istanbuler Stadtteilbürgermeister Gürbüz Capan im Juni nach Jerewan. Capan war der erste türkische Politiker, der dort einen Kranz am Mahnmal des Völkermordes niederlegte. Die Istanbuler Tageszeitung Hürriyet, faktisch ein halbamtliches Sprachrohr türkischer Staatspolitik, rühmte Capan, statt ihn wie sonst üblich als „Hochverräter“ zu brandmarken und titelte: „Machen wir endlich Schluß mit den Feindseligkeiten“.

Der türkische Wunsch, die Beziehungen zu Armenien aufzubessern, folgt ökonomischem und politischem Kalkül. Die westlichen Ölkonzerne arbeiten an dem Mammutprojekt der Ausbeutung des aserbaidschanischen Erdöls. Die Türkei will um jeden Preis, daß die zentrale Pipeline an einem türkischen Mittelmeerhafen endet. Ein aserbaidschanisch-armenischer Frieden mit engen Beziehungen beider Länder zur Türkei ist beste Voraussetzung, um die „richtige“ Pipeline-Führung zu forcieren. Die türkische Politik kann sich dabei voller Unterstützung aus Washington erfreuen: für eine Politik, die den Kaukasus der Hegemonie Rußlands entziehen will.

Wenn sich Interessen multinationaler, kapitalistischer Ölkonzerne mit Interessen des türkischen Staates berühren, kommt es – wenn auch ungewollt – zu Nebenprodukten. Ein radikaler Denker, wie Taner Akcam, der bislang vergeblich die Anerkennung türkischer Schuld beim Völkermord forderte, kommt in etablierten türkischen Medien zu Wort. Im Zusammenhang mit dem Holocaust ist in Deutschland oft die Rede von „Nazi-Verbrechen“. Seltener wird von „deutschen Verbrechen“ geredet. In der Türkei sei es schon ein Fortschritt, wenn begonnen werde von „Verbrechen der Jungtürken“ zu reden, meint Akcam. Ömer Erzeren