Wandel der Maßstäbe

■ Read.Me: "Engagement für ein neues Medium" - Manfred Dellings gesammelte TV-Kritiken spiegeln drei Jahrzehnte bundesdeutsche Fernsehgeschichte

Am Anfang steht das Ärgernis. Kritiken aus dem Zeitraum zwischen 1964 und 1993 verspricht der Untertitel, und folglich etwas Nützliches – denn über zurückliegende Fernsehereignisse ist schwer recherchieren, will man sich nicht tagelang in irgendwelchen Archiven vergraben. Erwartungsvoll nimmt man angesichts der Marktlage sogar den exorbitanten Preis von 79 Mark in Kauf. Dann aber zupft die Buchhändlerin ein schmales Paperbackbändchen aus dem Regal, das nicht einmal über eine sinnvolle Inhaltsübersicht, geschweige denn über ein Titelregister verfügt; und das obendrein scheußlich layoutet und schlampig lektoriert wurde.

Die schludrige Präsentationsform wird dem Inhalt nicht gerecht. Über mehr als drei Jahrzehnte hat Manfred Delling das Angebot des deutschen Fernsehens verfolgt und kommentiert. Die Sammlung seiner Texte spiegelt denn auch die wesentlichen Debatten und Kontroversen dieser Epoche und ist darüber hinaus ein brauchbarer Beitrag zur Geschichte der Fernsehkritik selbst, der den Wandel der Maßstäbe sehr schön veranschaulicht. Heute muß man schmunzeln, wenn der Fernsehkritiker Delling anno 1966 an „Spiel ohne Grenzen“ vor allem bekrittelte, daß die teilnehmenden deutschen Lehrer ihren belgischen Berufskollegen gegenüber ins Hintertreffen gerieten, Spielleiter Camillo Felgen den Namen Jean Paul unkorrekt aussprach und Komoderator Frank Elstner ein grammatikalischer Lapsus unterlief. 1985 parierte Delling quasi seinen eigenen Bildungsbürgerstreich, indem er über Quizsendungen schrieb: „Doch hier wird in der Regel die reine Faktenhuberei als Bildung verhökert, was sie am allerwenigsten ist, die Kenntnis lexikalischer Daten als Intelligenz gefeiert, das bloße Material schon für sein Verständnis genommen, Wissen für Bewußtsein.“

Obendrein läßt sich an Dellings eher sinnierenden Betrachtungen denn fixen Tageskritiken nachvollziehen, daß bestimmte Diskussionen zyklisch angezettelt werden. Über den Qualitätsverlust der Öffentlich-Rechtlichen wurde bereits geunkt, als das Kommerzfernsehen erst von Ferne dräute. Auch die Politmagazine waren gewissen Amtsträgern immer schon zu links, mindestens aber zu kritisch.

Zwar sind in den letzten 25 Jahren Konvolute sonder Zahl zum Thema Fernsehen zusammengeschrieben worden. Das wenigste davon aber ist für die intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Mediums tauglich, weil die Autoren, meist Stirnrunzler und Schwerdenker, mit erkennbarem Behagen anhand einzelner Phänomene die Minderwertigkeit des Mediums erläutern, dabei aber die Mühe scheuen, sich mit Geschichte, Typologie und spezifischen Konventionen der einzelnen Formate vertraut zu machen. Anders als in den angelsächsischen Ländern fehlt hierzulande eine Sachliteratur, die nicht nur einzelne Programmhöhepunkte, sondern das Alltagsprogramm schlechthin ausreichend erfaßt. Bücher wie das von Manfred Delling sind deshalb hilfreich, vermögen dem Mangel aber auch nicht abzuhelfen. Harald Keller

Manfred Delling: „Engagement für ein neues Medium. Ausgewählte Fernsehkritiken von 1964 bis 1993“. Frankfurt/M. 1995, 267 Seiten, 79 DM