Anleitung zum Unglücklichsein

Mit klösterlichem Habitus: Peter Brook hat in Paris seine Hamlet-Adaption „Qui est là?“ vorgestellt  ■ Von Sabine Seifert

Der Weg ist das Ziel, heißt so ein naseweiser Satz. In Paris ist er in diesen Tagen wörtlich zu nehmen. Zweieinhalb Stunden im Auto, kaum vor und kein Zurück, ob rot oder grün. Hauptsache, es geht weiter. Ab und an knallt einer durch und jagt seinen Wagen durch eine unvermutete Bresche, als gelte es, Kilometer aufzuholen. Zweieinhalb Stunden Anfahrtsweg zum Theater, das ist eine halbe Stunde mehr, als die Aufführung selbst dauert.

Das Theater ist voll, kaum jemand bleibt wegen der paar Autos oder der paar Kilometer Fußmarsch zu Hause. Peter Brook ist seit den 60er Jahren in den „Bouffes du Nord“ zu Hause, ein theatralischer Konvent in altem Gemäuer, der selbst erfahrene Schauspieler nur als Schüler zuläßt. Ihr Weg der Selbstfindung wird mit geradezu klösterlichem Habitus abgeschirmt: Seine Schauspieler seien direkt nach der Premiere noch nicht reif, über das Projekt zu sprechen, läßt Peter Brook ausrichten. David und Anne Bennent, die zweisprachig aufgewachsen sind, spielen mittlerweile beide bei Brook. Zum verabredeten Interview kommen sie also nicht.

Der Weg ist das Ziel: Brook läßt seine Ideen reifen. Lange ging er mit seiner Truppe auf Reisen, um fremde Kulturtechniken kennenzulernen. Erforschte mit ihr die realen Orte des theatralischen Geschehens. Ließ seine Schauspieler ohne Kostüme und Requisiten in Schulen spielen, bevor er sie vor Publikum auf die richtige Bühne ließ. Er inszenierte Tschechow und Shakespeare oder dramatisierte Oliver Sacks' Geschichten vom „Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“. Diesmal sollte es „Hamlet“ sein. Gar nicht so einfach, bemerkt Brook in einem Text, der im Dezember-Heft von Theater heute abgedruckt ist. „Sobald die Herausforderung lautet: Shakespeare spielen, gerät alles durcheinander. Das ist Doppeldenken, sich halb dem Autor, halb der Figur zuzuwenden. Doppeldenken stellt eine Verschwendung von Energie und Konzentration dar.“ Brook kommt zu dem Schluß: „Erst wenn wir Shakespeare vergessen, können wir anfangen, ihn zu finden.“

Interessanterweise outet sich Brook in demselben Text, selbst ein Meister der Mittel der Reduzierung, als ein Gegner des „Reduktionismus“, denn „praktisch bedeutet das die Verkleinerung all dessen, was unbekannt und rätselhaft ist: entzaubern, wo es nur möglich ist, alles aufs Normalmaß herunterschrauben. So werden junge Schauspieler in die Falle gelockt zu glauben, ihr Alltagsleben könnte ihnen alles geben, was sie brauchen, und ihr Erkenntnisvermögen dürfe auf ihren persönlichen Bezugssystemen aufbauen. Das führt die Schauspieler dazu, gängige politische und gesellschaftliche Klischees auf Situationen und Figuren anzuwenden, deren wahrer Reichtum weit über bloßes Denken hinausgeht.“ Auf was aber sollen sich die Schauspieler stützen? Die eigenen Erfahrungen? Die Erfahrungen der vorhergehenden Generationen? Die jungen Schauspieler heute, meint Brook, können sich nicht mehr auf eine Tradition berufen; eine Vielfalt von Stilen und Schulen ist ihnen nicht überliefert – sie sind ihnen ausgeliefert.

Brook entschied sich, den „Hamlet“ nicht ganz zu spielen und statt dessen die Theatertheoretiker und -praktiker dieses Jahrhunderts zu Wort kommen zu lassen: Artaud, Brecht, Meyerhold, Craig, Stanislawski. Die Idee ist das Ziel ist der Weg: Überzeugend angekommen ist die jüngste Recherche von Peter Brook bei mir nicht. Hamlet also. Wie lautet der erste Satz? „Who's there?“ „Qui est là?“ „Wer da?“ Dreimal springt David Bennent in die Bühnenmitte und versucht den Satz zu lancieren. Zweimal hat der vermeintliche Regisseur abgewinkt, beim drittenmal sind Satz und Schauspieler tatsächlich präsent.

Keiner der sieben an der Produktion beteiligten Schauspieler ist Franzose. Neben Anne und David Bennent spielen der Japaner Yoshi Oda, der Engländer Bruce Myers; Sotigui Kouyat und Bakary Sangar kommen vom afrikanischen Kontinent. Giovanna Mezzogiorno ist die Tochter von Vittorio Mezzogiorno, der schon in Brooks „Mahabharata“ mitgewirkt hat. Der Akzent der Schauspieler ist mehr oder weniger ausgeprägt. Giovanna Mezzogiorno spielt die Ophelia, Anne Bennent die Mutter, Gertrud. Hamlet wird von einem schwarzen Schauspieler dargestellt, Bakary Sangar, der Geist von Hamlets Vater von Sotigui Kouyat, einer langen, klapprigen Gestalt, die plötzlich afrikanisch spricht.

Eher schulmeisterlich wirken die Worte der großen Theatermänner dieses Jahrhunderts; gesprochen werden sie von den Darstellern der Hamlet-Saga, die plötzlich in ihrem Tun innehalten und so tun, als stünden sie neben ihrer Rolle, um ein wenig aus dem Nähkästchen der Schauspielkunst zu plaudern. Nach der Aufforderung Hamlets, doch ins Kloster zu gehen, antwortet Ophelia mit den Sätzen Artauds: „Wenn ich lebe, fühle ich mich nicht lebendig. Aber wenn ich spiele, dann spüre ich, daß ich existiere.“

Das ist noch ganz gelungen. Aber in der Szene, in der Hamlet Polonius ersticht, taucht Polonius plötzlich wieder hinter dem Vorhang auf und doziert über den Tod im japanischen Theater – ein ziemlich billiger Effekt. Regelrecht oberlehrerhaft wird es, als Ophelia stirbt und ein Schauspieler vortritt und sagt: „Ophelia ist tot. Wie sie gestorben ist? Wir wissen es nicht. Nun können Sie weinen.“ Als müsse man die Zuschauer darauf hinweisen, daß sie sich im Theater befinden. Eine Illusion. Brecht hätte an diesen Brüchen, den vorsorglichen Verfremdungseffekten, vielleicht seine Freude gehabt. Für heutige Zeiten ist die Montage nicht raffiniert genug.

Die reinen Hamlet-Szenen sind deshalb am spannendsten. Die fortwährenden Abschweifungen geben dem Ganzen den Charakter einer Probe; Brook läßt das Stück nicht auf-, sondern vorführen. „Qui est là?“ „Wer da?“ Meyerhold, Craig, Brecht, Artaud, Stanislawski, sie waren am Premierenabend alle anwesend, und doch schien es, als hätte Peter Brook auf die Frage „Wer da?“ ganz allein den Finger gehoben.

„Qui est là?“ Bouffes du Nord, Paris, bis zum 31. Januar. Reservierung: 0033-1-46073450. Im Frühjahr unter anderem in Lausanne und Berlin aufgeführt.