„Die Europäisierung lastet auf allen Völkern“

■ Der französische Anthropologe Emmanuel Todd über die Währungsunion, den Streik in seinem Land, die Arbeiterbewegung und über die Inkompetenz der Regierung Juppé

Die kommunistische Zeitung „L'Humanité“, die seit Jahren gegen das „Diktat der Bundesbank“ anschreibt, veröffentlichte vor wenigen Tagen dieses Gespräch mit Todd, einem der Intellektuellen im Umfeld des französischen Präsidenten Jacques Chirac. Todd wurde erst jüngst vom Europabefürworter zum Maastricht-Kritiker.

Frage: Herr Todd, was haben die Streiks mit den Traditionen der französischen Arbeiterbewegung und was mit Maastricht zu tun?

Emmanuel Todd: Da ist zum einen die Globalisierung mit der freien Zirkulation des Kapitals als Kernstück. Die Europäisierung – ein Spezialfall der Globalisierung – führt zu Einschränkungen, die auf allen Völkern Europas lasten. Dieser Prozeß verbreitert das Einkommensspektrum. In der westlichen Welt stellt er die Errungenschaften der weniger privilegierten Bevölkerung in Frage. Gleichzeitig erhöht er die Einkommen der Besserverdienenden. In Frankreich trifft dieser Prozeß auf eine besondere Kultur: Hier ist die Gleichheit, die Egalité, nicht in der Ideologie angesiedelt, sondern im Bewußtsein der Menschen.

Ignorieren die Eliten diese französische Besonderheit?

Ich stelle bei ihnen eine Tendenz fest, sich immer weniger auf das Besondere Frankreichs zu beziehen und, vor allem in wirtschaftlichen Fragen, zu imitieren: Sie imitieren die angelsächsische Welt, indem sie die freie Kapitalzirkulation und die Liberalisierung der Finanzmärkte akzeptieren, und sie imitieren Deutschlands rigide Geldpolitik mit dem Dogma der Parität von Franc und Mark. Die Angelsachsen setzen in diesem Rahmen auf die Selbstregulierung der sozialen Prozesse. Auf der wirtschaftlichen Ebene entspricht dem die Freiheit der Kapitalzirkulation, also die Freiheit der Finanzmärkte und das Floaten der Währung. Der Staat muß sich anpassen.

In Deutschland ist die Geldpolitik sehr rigoros, aber es gibt keine wirkliche Kapitalzirkulation. Das deutsche Kapital ist schwer zu penetrieren. Es gibt eine Art von Mitbestimmungsrecht der Industrie und der drei großen Banken.

Gibt es für die Mächtigen also keine Möglichkeit, der französischen Besonderheit zu entkommen?

Das Absurde der französischen Elite liegt darin, daß sie angelsächsische Elemente mit deutschen kombiniert haben, ohne deren Kohärenz zu prüfen. Einerseits akzeptiert sie die freie Kapitalzirkulation, andererseits drängt sie auf eine entschlossene Währungsparität. Das ist die sogenannte wirtschaftliche Modernität Alain Juppés, wenn er die Linie der Nationalbank aktzeptiert – das ist nicht die Haltung eines liberalen Kapitalisten, der sich dem Gesetz der Märkte unterwirft. Das Resultat ist dieser unaufhörliche Kampf. Er führt dazu, die Transaktionen auf dem Binnenmarkt für zweitrangig zu halten und den internen Konsum einzuschränken.

Wegen dieser etatistischen und autoritären Haltung halte ich die französischen Eliten für zutiefst inkompetent. Eine gewisse marxistische Tradition erklärt, daß die führenden Klassen aus Interesse handeln. Keynes würde als Auslöser bestimmter Irrtümer in der Wirtschaftspolitik eher reine Dummheit vermuten. Ich stehe in diesem Fall mehr auf der Seite von Keynes. Die regierende Klasse kann es sich manchmal erlauben, eine Dummheit zu begehen. Zumindest da, wo sie auf den ersten Blick nicht ihrem eigenen Interesse zuwiderhandelt. Interview: Arnaud Spire