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■ Nach dem Madrider EU-Gipfel: Eine neue Tagungsordnung für die Integration Gesamteuropas ist fälligVom Kopf auf die Füße!

Einen Euro-Gipfel wie den in Madrid zu einem „großen Erfolg“ hochzujubeln fällt überhaupt nicht schwer: Die eigentlichen Probleme kamen erst gar nicht auf die Tagesordnung! Souveräne Ignoranz gegenüber den wirklichen Schwierigkeiten des europäischen Einigungsprozesses kennzeichnete das Gipfeltreffen, garniert mit Altbackenem und übergoßen mit zuckersüßen, aber unverbindlichen Absichtserklärungen.

Diese PR-Strategie wird jedoch spätestens bei der für 1996 geplanten Regierungskonferenz an ihre Grenzen stoßen. Dafür sorgte die Madrider Konferenz, als sie die Tagesordnung für die „Maastricht II“-Folgekonferenz festlegte. Jetzt droht die 96er Regierungskonferenz zum Reparaturbetrieb des Maastrichter Vertrages zu verkommen. Die Chance, den europäischen Einigungsprozeß neu anzuschieben, der „Renationalisierung“ entgegenzuwirken und in der Bevölkerung eine solide Basis für Gesamteuropa zu gewinnen, wird so verspielt.

Europapolitik war in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend geheime Kabinettspolitik. Öffentlichkeit und Parlament beschäftigten sich mit den wesentlichen Entscheidungen in der Entwicklung von der EWG zur EU zumeist erst im Zusammenhang mit einem Ratifizierungsverfahren – also nachdem alles gelaufen war. Wenn zentrale, den Kern unserer staatlichen Verfassung und nationale politische Handlungsspielräume berührende Entscheidungen ohne öffentliche Debatte stattfinden und die Abstimmungen in den nationalen Parlamenten in keiner Weise die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung widerspiegeln, dann unterhöhlt eine solche Politik die Legitimation des europäischen Einigungsprozesses. Die Revisionskonferenz 96 ist deshalb eine Chance, Europa wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Aber nur, wenn frühzeitig eine gesellschaftliche Diskussion über die Perspektiven und Grenzen der europäischen Integration begonnen wird.

Die EU bedarf einer doppelten Reform: Umbau in Richtung auf eine nachhaltige Entwicklung und Umbau im Hinblick auf die Erweiterung. Innere Reform und Erweiterung sind keine Alternative, sondern bedingen einander, weil grundlegende Strukturdefizite des bisherigen Integrationsprozesses die Erweiterung gefährden. Die Revisionskonferenz braucht deshalb eine alternative Tagesordnung, wenn die EU für ein demokratisches, ziviles, ökologisches und soziales Gesamteuropa tauglich werden soll.

Die Rückkehr der mittel- und osteuropäischen Staaten nach Europa stellt eine der zentralen Herausforderungen für die Union dar. Im Rahmen der sogenannten Heranführungsstrategie konzentriert sich die EU darauf, den Beitrittskandidaten unter einem enormen Anpassungsdruck an die Binnenmarktstrukturen zur Beitrittsfähigkeit zu verhelfen. Das Problem der Erweiterungsfähigkeit der EU wird gern auf die Frage der institutionellen Reformen reduziert. Verschwiegen wird, welche tiefgreifenden inneren Reformen außerdem zum Beispiel im Bereich der Agrar- und Strukturpolitik unumgänglich sind, um die EU gesamteuropatauglich zu machen. Die Spaltung Europas kann nur dann überwunden werden, wenn die wirtschaftliche und soziale Integration bald in Angriff genommen wird. Nur eine konkrete und glaubwürdige Beitrittsperspektive für die beitrittswilligen Länder wird deren Bedürfnis gerecht werden, die Demokratisierungs- und Reformprozesse zu stabilisieren. Glaubwürdig ist die Erweiterungsperspektive aber allein dann, wenn auch die EU ihre Reformfähigkeit unter Beweis stellt.

Auf Dauer werden die Europäer dem europäischen Integrationsprozeß nur zustimmen, wenn konsequent demokratisiert wird – auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Das Europaparlament muß gestärkt werden, damit es endlich neben dem Rat zu einem gleichwertigen Gesetzgebungsorgan wird. Institutionen wie Entscheidungsverfahren müssen durchsichtig gestaltet werden. Wir müssen dafür sorgen, daß die Beteiligungsrechte für BürgerInnen und Betroffene verstärkt werden. Ein europäischer Bürger- und Menschenrechtskatalog gehört schon seit langem zum Kanon der Forderungen an die EU-Reform, vor allem die Ausweitung der Unionsbürgerschaft mit gleichen Rechten für alle legal in der EU lebenden Menschen.

Auch die Tabuzone der Innen- und Justizpolitik, bislang ausschließlich Aktionsbereich der Regierungen, sollte angepeilt und „vergemeinschaftet“ werden. Nur so wäre endlich eine eine wirksame parlamentarische und gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten. Wer hier nur an eine Harmonisierung der Kriminalitätsbekämpfung und des Abschieberechts denkt, greift zwar zu, aber entschieden zu kurz. Neue gemeinschaftliche Regelungen dürfen keinesfalls dazu führen, daß nationale rechtsstaatliche bzw. völkerrechtliche Standards – Datenschutz, Asylrecht – ausgehebelt werden.

Auch die Reform der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)“ wird seitens der Regierungen bislang nur unter dem „Supermacht Europa“-Wunschziel angegangen. Dagegen wäre es notwendig, gerade die zivilen Aspekte der GASP auszubauen. Die Idee, die Westeuropäische Union (WEU) mit der EU zu verschmelzen, ist der falsche Weg. Damit soll die militärische Kooperation schrittweise intensiviert werden. Richtig aber wäre es gerade, die Trennung von zivilen und militärischen Strukturen in der EU strikt aufrechtzuerhalten. Der richtige Ort für eine europäische Sicherheitspolitik ist die OSZE. Hier sind Initiativen der EU zur Weiterentwicklung gefragt.

Seit der Einführung des Binnenmarktes 1993 stieg die Arbeitslosigkeit in Europa. Ein Binnenmarkt, der allein auf Wachstum setzt und alles dem Selbstlauf der Märkte überläßt, trägt den Erfordernissen einer ökologisch und sozial verantwortlichen Wirtschafts- und Lebensweise nicht Rechnung. Die Ziele der Union müssen deshalb auf der Regierungskonferenz erweitert werden. Es geht um die Förderung eines umweltgerechten nachhaltigen Wirtschaftens und einer ökologisch-solidarischen Weltwirtschaft. Damit endlich mit der Wirtschaftsunion auch eine Sozial- und Umweltunion realisiert wird.

Werden wie in Madrid auch auf der Regierungskonferenz 1996, die im März eröffnet werden soll, die zentralen Herausforderungen an eine gemeinsame europäische Politik nicht in Angriff genommen, dann wird sich der allenthalben zu beobachtende Prozeß der Renationalisierung fortsetzen und die Integration insgesamt gefährden. Christian Sterzing

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