Politik ist wie Fliegen

■ Angst vor Rußland gibt es heute nur noch im Westen

Es war für viele ein Schock, als vor zwei Jahren Wladimir Schirinowski die Wahlen gewann. Viele hatten Angst vor ihm, eine größere noch als heute vor den Kommunisten. Was aber hat der russische Obernationalist so Angsteinflößendes getan? Nicht er, sondern „der Demokrat“ Jelzin ist für den Krieg und die Kriegsverbrechen in Tschetschenien verantwortlich.

Das gesamte Staatswesen im heutigen Rußland ist nach wie vor auf den Kreml fixiert, wie zu Zeiten der Zaren und der Generalsekretäre. Das war von jeher das russische Problem, wie vor 150 Jahren der Dichter und Philosoph Alexej Chomjakow bemerkte: „Unsere Regierung ist autokratisch. Das ist sehr gut so. Aber daß unsere Gesellschaft selbst despotisch ist, das kann nicht angehen.“ Der erste Slawophile Chomjakow war ein überzeugter Monarchist, doch auch ihm war die gesellschaftliche Libertät wichtiger als die Staatsform. Nur glaubte er, die russische Gesellschaft sei noch nicht reif für eine Demokratie. Rußland hatte in der Tat die Entwicklung bürgerlicher Demokratien nicht durchgemacht. Macht das einen gravierenden Unterschied zwischen Rußland und dem Westen aus? Oder handelt es sich in Rußland nicht eher um eine historische Verspätung?

Bei den gestrigen Wahlen ging es jedenfalls mehr um die Historie als um die Politik. Die Tatsache, daß Schirinowski etwas mehr Stimmen als erwartet bekommen hat und daß Sjuganows Kommunisten erwartungsgemäß die stärkste Partei geworden sind, ist nicht das wichtigste Wahlergebnis. Viel wesentlicher ist die hohe Wahlbeteiligung: Sie lag um etwa 10 Prozent über der von 1993. Die Einstellung der Wähler hat sich verändert. Viele wählen nicht mehr aus Frust oder aus Angst.

Nach dem Sieg Schirinowskis vor zwei Jahren gerieten viele Russen noch in Panik. „Heute dagegen ist es wie in einem Flugzeug“, erklärte eine Moskauerin vor den Wahlen. „Selbstverständlich kann es abstürzen. Aber man denkt ja nicht die ganze Zeit daran. Sonst sollte man lieber gar nicht fliegen.“ Angst vor der russischen Politik haben die Menschen im Westen mehr als die Russen selbst. Vielleicht ist die Einsicht, die sich jetzt in Rußland breitmacht, noch nicht bis in den Westen vorgedrungen: Russische Politik ist genauso normal wie das Fliegen, sie ist nicht gleich Terror oder Rebellion, Unterdrückung oder Selbstherrschaft. Diese Veränderung des russischen Politikbegriffs ist für die Reformen und die Zukunft des Landes viel wichtiger, als es die einzelnen Wahlergebnisse sind. Boris Schumatsky