■ Gastkommentar
: Schritt in die Vergangenheit

Heute morgen tagt die Bildungs-Deputation, und wenn nicht eine plötzliche Wandlung über die Deputierten der Großen Koalition kommt, dann wird das Gremium eine bittere Entscheidung treffen. Dann wird es Kooperationsklassen von behinderten und nichtbehinderten SchülerInnen nur noch bis zur sechsten Klassenstufe geben.

In der ZDF-Sendung „Menschen '95“ am letzten Sonntag haben Kinder aus einer Grollander Schulklasse die Einhaltung von Versprechen für ihre und alle anderen sogenannten Kooperationsklassen eingefordert. Pfiffig und beharrlich hatten sie zuvor deutlich gemacht, wie viel ihnen am gemeinsamen Unterricht mit ihren geistig und schwer mehrfachbehinderten Mitschülerinnen liegt, auch über die sechste Klassenstufe hinaus. Diese sollen nämlich ab Klasse sieben in die Sonderschule gehen. „Ja, Herr Scherf“, faßte Moderator Jauch zusammen, „was sagt er jetzt?“

Kinder, die bisher in integrativen Kindergärten, dann in kooperative Schulklassen gingen, also die isolierte Situation nicht kennen, kommen in eben diese. In die Sonderschule zu gehen, ist nicht per se schrecklich. Sonderschulen haben geistig und schwer mehrfachbehinderten Kindern und Jugendlichen seit Jahren in der Praxis ihr Menschenrecht auf Schulbildung gesichert, was ihnen seit dem neuen Schulgesetz, und damit seit Dezember 1994, auch nicht mehr genommen werden kann – Bremen sei Dank. Nur, verglichen mit dem, was sich entwickelt hat, ist es ein Schritt in die Vergangenheit.

Behinderte und nichtbehinderte Kinder haben in den letzten Jahren im gemeinsamen Schulalltag mit Menschen leben gelernt, die anders sind. Sie haben erlebt, wie sich (etwa in Projekten) ganz unterschiedliche Qualitäten zu einem gemeinsamen Ganzen verbinden, wie sich Themen vernetzen. Kurz: Sie haben gelernt, was Kooperation heißt. Alles Stichworte, die in Denkschriften zur Zukunft der Bildung dick angestrichen sind.

Bremen läßt sich gerne für Modelle loben. Voilà, hier habt ihr eins! Eines mit einem guten Ruf. PädagogInnen aus der ganzen Republik schauen gespannt nach Bremen, Fachleute aus ganz Europa waren schon da. Was sich gut und tragfähig zu entwickeln begann, wird jetzt entscheidend begrenzt. Bremen wird ideell ärmer.

Diese gemeinsame Beschulungsform hat sich in einem Prozeß entwickelt, für den es anfangs keinen Begriff gab. Heutzutage heißt das in der bildungspolitischen Landschaft Autonomie. Unter diesem Stichwort wachsen in Bremens Schulen neue Profile, blühen neue Projekte, entwickelt sich Pädagogik neu. Eine Chance für die Zukunft. Zahlreiche KollegInnen sind noch einmal mit in dieses Boot gestiegen, die eigentlich nicht mehr daran glaubten, daß ihr früher oftmals enttäuschtes Engagement diesmal eine dauerhafte Chance bekommen könnte. Und genau dieses neu geweckte Engagement droht erneut enttäuscht zu werden.

Wer SchülerInnen, Eltern, LehrerInnen auf einen autonomen Weg schickt, sie ermuntert, Schule neu zu denken und zu gestalten, nur um ihnen anschließend mit einem finanzpolitischen Grenzpfahl zu winken, riskiert Enttäuschung, Verbitterung und Resignation bei den Beteiligten, die nicht mehr so leicht umkehrbar sind. Das sollten alle diejenigen nicht unterschätzen, die jetzt (im Fall der Beschränkung der Kooperation auf die Klassen eins bis sechs) und in Zukunft bildungspolitische Entscheidungen zu treffen haben. Bremen muß auch finanzpolitisch zeigen, daß man autonome Prozesse der Schulentwicklung, und damit der nächsten Generation, ernst nimmt.

Falls kein weihnachtliches Wunder geschieht, wird die Bildungsdeputation heute die Kooperation bis zum Abschluß der Orientierungsstufe sichern (was wunderbar ist), aber gleichzeitig die behinderten Kinder nach der sechsten Klasse in die Isolation schicken. Auch wenn die EntscheidungsträgerInnen glauben, aus finanzpolitischer Verantwortung für das Land heute nicht anders entscheiden zu können: Die Tür zum Dialog muß offen bleiben, die Suche nach Lösungen zur Fortführung dieses „Bremer Modells“ muß weitergehen. Gleich ab morgen. Manche Wunder dauern eben etwas länger.

Michael Haag, Kooperations-Lehrer