Die Angst vor dem Postboten

■ Er ist serbischer Nationalität, sie Muslimin. Eine Familie aus Sarajevo soll mit ihren vier Kindern nach Montenegro zurück, obwohl sie bosnische Papiere hat. Die Furcht vor der erzwungenen Rückkehr macht alle k

Rade Matovic haßt Briefe. Vor zwei Tagen steckten die Grenzübertrittsbescheinigungen in der Post. „Jetzt ist es soweit. Wir sollen zurück.“ Das Papier der Ausländerbehörde flattert zwischen Rades Fingern. Er tauscht es hastig gegen eine Zigarette. Die Kinder sind bei seiner Frau Samira eingetragen: der Große, Zarko, acht Jahre alt, Milovan, der 1994 geboren wurde, Töchterchen Tanja, die fünf ist, und der dreijährige Daniel.

Samira hat die Jüngsten am Morgen in den Kindergarten gebracht. Zarko ist krank. Bauchkrämpfe. Die Schule wird für ihn einige Tage ausfallen. Blaß und mager hockt der Junge vor dem Fernseher, sieht einem Trickfilm nach dem anderen und schweigt.

„Ich werde nicht von hier weggehen“, sagt Rade Matovic entschlossen. Auch nicht nach dem Friedensvertrag. Solange in seiner Heimat die Kriegsverbrecher regierten, werde es keinen Frieden geben. „Und wenn man uns zwingen will zu gehen, stürze ich mich lieber vor die Straßenbahn.“

Im März 1992 waren Rade und seine Frau mit den beiden ältesten Kindern aus Sarajevo geflohen, beschimpft von den einst guten Nachbarn, bedroht als „Verräter“ an der Grenze. Zurück blieb ihr Haus. „Ein wunderschönes eigenes Haus“, schwärmt Rade. Erst 1990 war der aus Montenegro stammende Schiffsmaschinist mit seiner Familie dort eingezogen. Er, ein Serbe, und Samira, eine Muslimin, wohnten fortan im bosnischen Sarajevo. „Das war schließlich nichts Ungewöhnliches“, sagt Rade. Kein Problem, bis der Krieg begann.

Im Herbst 1992 kamen die Matovics in Berlin an und wurden in einem privat betriebenen Flüchtlingsheim untergebracht. Daniel und Milovan kamen auf die Welt, Zarko ging in eine Schule in Prenzlauer Berg. Alles schien einigermaßen in Ordnung und doch nichts geklärt. Die Nachrichten aus der Heimat waren nie gute, die schlechteste kam, als Samiras Bruder sie aus Sarajevo über die Zerstörung ihres Hauses informierte.

Rade wurde krank. In der Lunge sammelte sich Wasser, die Nieren spielten nicht mehr mit. Der Seemann mußte zum erstenmal in seinem Leben ins Krankenhaus. Samira wurde immer magerer, Milovan wurde zu früh geboren. Hinter einer Schranktür stapeln sich mittlerweile mehr als zehn Sorten ärztlich verordnete Medikamente, auch gegen Schlaflosigkeit und Magenbeschwerden. „Wären nicht die Kinder, wahrscheinlich hätte uns der Mut schon verlassen“, so der 36jährige.

Eine Mitarbeiterin des Heimes sorgte dafür, daß im Erdgeschoß des Hauses eine einstige Eckkneipe zur Wohnung umgebaut werden konnte. Hinter ständig herabgelassenen Jalousien schlafen da, wo der Schankraum war, nun Samira und Rade. Die Kinder haben ein eigenes Zimmer, in dem Tanja ihre Barbie wie einen Schatz hütet und in das sich Zarko zurückzieht, wenn das Wohnzimmer voll Besuch ist. Die Eltern haben oft Besuch, Flüchtlinge, die sich hilfesuchend an Rade wenden. Er schickt niemanden weg, der ihn um eine Übersetzung bittet. „So bin ich wenigstens beschäftigt.“

Seit dem Spätsommer dieses Jahres zählt Familie Matovic nicht mehr zu den in Berlin geduldeten Bürgerkriegsflüchtlingen. Gekürzte Sozialhilfe, kein Kleidergeld, kein Weihnachtsgeld für die Kinder, selbst bei den vom Sozialamt vermittelten Jobs der „Hilfe zur Arbeit“ gibt es ohne Duldung nur 2 statt 3 Mark die Stunde.

Nach Durchsicht der Akten forderte die Ausländerbehörde die Familie auf, nach Montenegro zurückzukehren. Daß Rade und Samira an der bosnisch-montenegrischen Grenze die Papiere abgenommen worden waren, interessiert wenig. Ebensowenig der neue Paß, den Samira von der bosnischen Botschaft erhalten hat.

„Nach unserer Erfahrung hat sich die Ausländerbehörde Stichtage gesetzt, ab denen hier ausgestellte bosnische Pässe nicht mehr anerkannt werden“, erklärt Uschi Jeske, Flüchtlingsberaterin beim publicata e.V. Andererseits fordere die Ausländerbehörde Flüchtlinge auf, sich von der Botschaft bestätigen zu lassen, daß sie keine Staatsangehörigen der Republik Serbien sind. „Das lehnt die Botschaft natürlich ab, so Uschi Jeske. Für Bosnier sei man nicht zuständig.

Die Ausländerbehörde will über ihr Vorgehen im Fall Matovic keine Auskunft geben. Dabei gibt es Ungereimtheiten: Rade schickte am 1. September seinen Widerspruch gegen die auslaufende Duldung los. Der Brief hätte frühestens am 2. September bei der Ausländerbehörde eintreffen können. Doch das Antwortschreiben, in dem sein Widerspruch abgelehnt wird, trägt das Datum vom 29. August.

„Der Zustand der Eltern ist besorgniserregend“, sagt Irina Petzoldova von der psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle des DRK. Allerdings kümmere das die Ausländerbehörde wenig. Nicht schlafen und nicht essen zu können sei bei Flüchtlingen normal. Mit der Rückkehr in die Heimat sei die psychische Belastung beendet, heiße es oft, weiß die Psychologin aus Erfahrung.

Rade Matovic versucht, nicht ungeduldig zu werden. Besonders, seit er weiß, wie es um seinen Großen, um Zarko, bestellt ist. Der während der Flucht Fünfjährige hat viel zuviel gehört und gesehen, sagt der Vater. Seit einiger Zeit redet Zarko zu Hause nicht mehr in seiner Muttersprache. Er ißt kaum noch, es sei denn, der Fernseher läuft nebenbei und lenkt ihn ab. Im letzten halben Jahr hat der Junge vier Kilo abgenommen. „Als wir über Dayton sprachen, lief er in sein Zimmer und weinte. Er weint eigentlich sehr oft“, sagt Rade ratlos.

In der Schule weiß man von alledem nichts. Zarko ist sehr beliebt bei den Mitschülern, sagt seine Lehrerin. „Höflich, kameradschaftlich.“ Er lese ausgezeichnet, rechne auch gut und sei ein fairer Sportler. Seine MitschülerInnen wissen, woher er kommt. Er ist einer von ihnen, sie laden ihn zum Geburtstag ein. Krank sei der Junge vielleicht ein einziges Mal im vorigen Jahr gewesen. Nur jetzt sei er schon eine Woche krank – „oder sind es bereits zwei?“ Die Lehrerin ist sich plötzlich nicht mehr sicher. Der Terminkalender ist voll, Weihnachtsfeiern und anderes. Ob sie sich nicht für die Familie einsetzen kann? „Wissen Sie, ehrlich gesagt habe ich da wenig Hoffnung. Wir haben so einen Kampf schon einmal durchgefochten. Es hat nichts genutzt, die Familie ist weg.“ Als Lehrerin könne sie ohnehin nicht mehr tun.

Die Psychologin Irina Petzoldova will eine Spieltherapie für Zarko beantragen. Seine Verweigerung gegenüber der Familie sei eine stellvertretende Ablehnung seiner derzeitigen Lebensumstände. „Es besteht die Gefahr, daß der Junge magersüchtig wird.“

Wie gern würde Rade die Lebensumstände seiner Familie ändern, aus eigener Kraft. Statt dessen agieren Flüchtlingsberater, Ärzte, Anwälte.

Mit der Mittagspost kommt wieder ein Brief. Diesmal ist es eine gute Nachricht. Das Sozialamt bewilligt für die Kinder Kleidergeld. „Endlich können die vier Winterschuhe bekommen“, freut sich Rade. Vielleicht bleiben auch noch ein paar Mark über, um den Baum zu schmücken, der seit gestern im einstigen Schankraum steht. Kathi Seefeld