Eine hauchdünne Schicht von Zivilisation

taz-Serie „Europa im Krieg“: Die Theorie von der Unvermeidbarkeit der Kriege gilt als wirksamstes Mittel, um militärische Einsätze zu legitimieren. Als Beispiel dient dabei der Krieg im ehemaligen Jugoslawien  ■ Von Manuel Vázquez Montalbán

Die Vision von einem bis zum Ural geeinten Europa entstand mit einer langen Narbe – gezeichnet durch die Reihen von Kreuzen auf den Landkarten, die den Eisernen Vorhang markierten. Ein vereintes Europa schien so fern wie das Jüngste Gericht. Aber als die Berliner Mauer dann fiel und die Länder des sogenannten realen Sozialismus allmählich zum irrealen Kapitalismus übergingen, rückte dieser Traum in eine greifbare Nähe. Ein vereintes Europa in einer genormten Welt: normiert durch einen Markt, eine Ideologie, eine militärische Schutzmacht, die nordamerikanische; kontrolliert durch eine universelle Regierung, die UNO.

So sah der idyllische Rahmen aus, in dem die Propheten des zügellosen Neoliberalismus auftauchten, begleitet von der universellen Sozialdemokratie, dem guten Gewissen, das den Markt, wo es möglich ist, mit egalitärem Verstand versieht. Leider sind die Happy-Ends mit dem Kino von Frank Capra ausgestorben. Und es dauerte nicht lange, bis das Durcheinander ausbrach. Aber dieses Mal nicht an den Rändern des Systems (Korea, Vietnam, Angola, Iran, Nicaragua, Afghanistan), wie im Kalten Krieg, sondern drei Autostunden von Wien oder Triest entfernt.

Noch raucht der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, und schon gibt es zwei bemerkenswerte Überlegungen über den Sinn der gegenwärtigen und zukünftigen Kriege. Sie stammen von Hans Magnus Enzensberger und Alvin Toffler, die ihnen den Charakter von „Bürgerkriegen“ zusprechen. Diese Kriege hätte ihren Grund nicht länger im Streben nach universeller Hegemonie, sondern in militärischen Spannungen, die durch sehr unterschiedliche Faktoren hervorgerufen würden: das könnten ethnische Wirren sein, die Ungleichheit zwischen Nord und Süd, angeregt durch religiöse Auseinandersetzungen, Kämpfe um Wasserversorgung oder die Lagerung von Giftmüll.

In den fünfziger Jahren gab es noch eine intellektuelle Suche nach einem neuen Humanismus. Das war eine Reaktion auf die Drohung des Atomkriegs, auf das zynische „Gleichgewicht des Schreckens“ und der „gegenseitigen Abschreckung“. Die Grundannahme dieses neuen Humanismus war, die Notwendigkeit oder Legitimität jedes Krieges abzustreiten. Es stimmt zwar, daß die Realität diese Annahme weitgehend widerlegte – es gab ja durchaus Kriege. Aber es stimmt auch, daß die starke Antikriegsbewegung entscheidend dazu beitrug, das Ende des Vietnamkrieges zu beschleunigen. Auch breitete sich in der Gesellschaft eine Antikriegs-Kultur aus, die die technisch-militärischen Strukturen ebenso behinderte wie die Staaten, die Waffen produzieren und exportieren.

Es war diese bewußtseinsfördernde Rolle der Friedensbewegungen, die die Verantwortlichen dazu zwang, den Golfkrieg als einen Krieg ohne Toten zu inszenieren. Angeblich wurden ja nur „intelligente“ Bomben eingesetzt. So intelligente Bomben, daß sie angeblich nur elektronische Ziele vernichteten. Tatsächlich waren die Tausende von Toten, die der Krieg gekostet hat, kaum zu sehen. CNN hat zwar direkt, aber falsch übertragen. Diese Strategie, die Barbarei des Krieges vor den Augen der Bürger zu verbergen, kann nur in Blitzkriegen wie dem Golfkrieg erfolgreich sein.

Ideologisch am wirksamsten ist aber die wieder lancierte Theorie von der Unvermeidbarkeit der Kriege. Dabei handelt es sich nicht mehr um die berühmte These der Maoisten vom unvermeidbaren Dritten Weltkrieg, sondern um die unvermeidbaren Bürgerkriege oder regionalen Kriege. Es heißt, sie entstünden durch objektive Verzerrungen eines Systems, das keine Alternative hat.

Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien werden sogar als Ergebnis einer rückständigen Logik verkauft: Als Resultat einer geopolitischen Deformation, die durch den Zweiten Weltkrieg und die kommunistische Diktatur hervorgerufen wurden. Sie können auch als Ausdruck der kriegerischen Pulsschläge der europäischen Grenzvölker erscheinen. In deren kollektivem Unbewußten haben die Frontstellung zum türkischen Reich und nationalistische Geschwüre überdauert, die nun aufgebrochen sind.

Im harmonischen Europa und den USA ist das Klischee von der „unerklärlichen Barbarei“ propagiert worden, die manchmal einige Politiker ohne philosophische Bildung dazu brachte, über die hauchdünne Schicht von Zivilisation zu philosophieren, die uns vom bösen Wilden trennt, das wir alle in uns tragen.

So ist die Haltung gegenüber den jugoslawischen Kriegen von einer merkwürdigen Kombination von schlechtem Gewissen und falschem Bewußtsein geprägt – besonders gegenüber Bosnien als Verkörperung des Märtyrers einer „rational nicht zu erklärenden Situation“.

Deutschland, Frankreich, die USA und Rußland haben die jugoslawischen Kriege angestoßen. Sie förderten das Auseinanderbrechen Jugoslawiens, indem sie jeweils auf die regionale Hegemonie der Serben oder der Kroaten setzten. Alle waren sie mißtrauisch gegenüber Bosnien als einer möglichen zukünftigen Enklave des Islam in jenem Europa, das von Finisterre (Nordwestspanien, A.d.R.) bis zum Ural reichen sollte. Das falsche Bewußtsein hat verhindert, daß diese Tatsachen Eingang in das Allgemeinwissen auf Seiten der Medienkonsumenten gefunden haben.

Das schlechte Gewissen hingegen haben vor allem die Intellektuellen mit symbolischen oder wohltätigen Aktionen gepflegt, die so leicht lächerlich gemacht werden können. Außer eben von den vermeintlichen Opfern des Krieges, die dank dieser Aktionen spirituellen Beistand oder auch eine Büchse Sardinen erhalten haben – was im Krieg zwei knappe Güter sind, egal ob es sich um Weltkriege Bürgerkriege, ethnische Kriege, rationale Kriege oder irrationale Kriege handelt.

Aber es wird nicht lange dauern: Sobald sich im ehemaligen Jugoslawien irgendeine geopolitische Lösung durchsetzt, wird alles, was passiert ist, in das neue Bewußtsein über die Unvermeidbarkeit der Kriege eingehen. Und wenn die Kriege unvermeidbar sind, und viel weniger kontrollierbar als in jenen Zeiten, in denen sie von einem Gipfeltreffen zwischen den USA und der Sowjetunion abhingen, dann muß die Falle des falschen Bewußtseins oder des schlechten Gewissens umgangen werden.

Dabei hilft die Gewissensruhe, die die Annahme verschafft, daß ein Weltkrieg sowieso unmöglich ist. Bis zu dem Tag, an dem der globale Marktzusammenhang zwischen Japan, Europa und den neuen kapitalistischen Blöcken, die auf die sogenannten realsozialistischen Länder gefolgt sind, zerbricht. Solange das unvorstellbare Duell der Riesen nicht beginnt, so lange werden die ideologischen Machtzenren weiter ihr Konzept verbreiten. Das Konzept von der Unvermeidbarkeit der Kriege und von der Nutzlosigkeit des Pazifismus als ethischem Referenzpunkt ohne Gebrauchs- oder Tauschwert.

Es ist sehr schwierig, weiterhin die Unrechtmäßigkeit der Kriege zu verteidigen, wenn die angesehensten Polemiker im Dienste der entscheidendsten Mächte daran festhalten, daß Kriege unumgänglich sind. Auch wenn es nur darum ginge, Generationen von Waffen auszuprobieren, die ansonsten veralten würden, ohne jemals ihre technischen Vorzüge demonstriert zu haben. Dies ist immerhin eine viel zivilisiertere These als die, die den billigen Bellizismus der sogenannten „Neonazis“ stützt. Danach gehört Gewalt zur Natur des Menschen und hat die historische Aufgabe, die Hierarchie der Werte neu zu bestimmen. Die Gewalt sorge dafür, daß sich das Starke und Gesunde gegenüber dem Schwachen und Kranken durchsetzt.

Es wäre auch denkbar, daß es ein endgültiges ideologisches Abkommen gibt, zwischen dieser primitiven Gewalt, die in der Reichweite der Massen ist, und den ausgeklügelten pantechnologischen Positionen. Die letzteren sehen im Krieg ein Experimentierfeld für Vernichtungsfeldzüge, die von immer intelligenteren Geräten ausgeführt werden: ohne daß der Tod noch irgendeine wahrnehmbare Spur hinterläßt, die weitergegeben werden könnte – nicht einmal von CNN.

Übersetzung aus dem Spanischen:

Karin Gabbert