„Die Großen sind manchmal so doof“

Sie wollen Fußballer werden und einen Lamborghini fahren. Sie gehören zu den letzten Jungen der DDR und zur ersten gesamtdeutschen Generation – fünf Neunjährige aus Halle-Neustadt erzählen  ■ Von Steve Körner

Ihre Sportidole sind Jürgen Klinsmann und Oliver Kahn, ihr Filmheld ist Arnold Schwarzenegger. An der Wand im Kinderzimmer der Dreiraumwohnung hängt ein Poster der „Prinzen“ neben einem des Wrestling-Kämpfers Tatanka. Gelacht wird am lautesten über Otto und den Komiker Mr. Bean. „Den Hulk dürfen wir nicht vergessen“, meint Sebastian. Hulk ist ein Superheld, der grün und riesig wird, wenn man ihn reizt. So was gefällt nicht jedem. „Weil Hulk ist blöd.“

Marcus und Marian, Stefan, Sebastian und Benjamin sind neun Jahre alt. Sie sind nicht mehr richtig klein, aber noch lange nicht richtig groß. Sie leben in Halle-Neustadt, einer Plattenbausiedlung am Rande von Halle, der größten Stadt in Sachsen-Anhalt, und sie gehen in die vierte Klasse. Schule finden sie „nervig“, aber „man lernt was“, Mädchen nennen sie abfällig „Weiber“, weil die „immer nur knutschen wollen“.

In Sachen Sex macht ihnen halt keiner mehr was vor, seit sie das Thema in Heimatkunde hatten: „Hier ein Glied und da ein Glied“, beschreibt Stefan die Sache zwischen Mann und Frau, „und dann jupps.“ Sie können sich durchaus noch Spannenderes vorstellen.

Die letzten Kinder der alten DDR sind zugleich auch die erste gesamtdeutsche Generation – geboren Mitte der achtziger Jahre, haben sie kaum noch Erinnerungen an die alte Zeit. Vati kam damals immer spät nach Hause, erinnert sich einer. Und man konnte nicht hinfahren, wo man wollte, glaubt ein anderer. Schwer vorzustellen.

Heute, fünf Jahre nach der Stunde Null, glauben die Jungen schon fest daran, in „Deutschland“ geboren zu sein. Im Sommer fahren sie mit den Eltern nach Mallorca, in die Türkei oder nach Tunesien in Urlaub. Sie kommen zurück und verstehen nicht, „warum solche Asis und Neonazis was gegen die Ausländer haben“.

„Asi“ ist ein feststehender Begriff. Sozusagen das Gegenteil von Held. Asis, sagt Stefan, seien so Typen mit Glatze, die „saufen und keine Ahnung haben“. Keine Ahnung zum Beispiel, daß Türken nett sind. Und daß die Tschechen sogar richtig gut deutsch sprechen können.

Als wäre es nie anders gewesen, wachsen die heute Neunjährigen in den westlichen Wohlstand hinein. Fast jede Familie hat ein Auto, fast jede besitzt Computer, Videorecorder, CD-Player. Und die Jungen können alles bedienen. Sie sind, was Marketing-Experten „Kids“ nennen: selbstbewußt wie Große und zappelig wie Kleine, die Köpfe voller Werbesprüche, Markennamen und Fußballergebnisse.

Sie haben feste Vorstellungen davon, wie sie später mal leben wollen. Sebastian wird Magier, Marian Schauspieler oder Trickfilmzeichner. Benny orientiert sich mehr in Richtung Stuntman. Stefan und Marcus erwägen eine Karriere als Fußballer oder bei der Feuerwehr. Später werden sie sich alle einen Lamborghini kaufen. Oder einen Porsche.

In vielen Dingen kennen sie sich heute schon besser aus als ihre Eltern. Sie wissen, welche Rückennummer Klinsmann trägt, wieviel Millionen Matthäus wert ist und daß die Einheit „PS“ bei Automotoren angibt, „wie schnell der Schlitten rasen kann“.

Lädt man sie zum Eis ein, bestellen sie mit allergrößter Selbstverständlichkeit den allergrößten Becher. Und wenn der nicht gleich kommt, fallen spitze Bemerkungen über den „schlechten Service“ in dem Laden. So laut, daß es die Kellnerin hört.

Disney kommt ihnen nicht mehr ins Haus. „Nöö, Donald Duck ist schnulz“, darin sind die fünf Jungs sich einig. Als „total affig“ gelten auch Schlümpfe und Mickey Mouse. Babyhaft. Kinderkram.

Was Erwachsene pädagogisch wertvoll und erfreulich gewaltfrei finden, finden sie langweilig. „Richtig gute Filme müssen mit Action sein“, meint Benjamin, „sonst ist einfach keine Spannung dabei.“ Als beispielhaft loben sie Serien wie „Captain Planet“ oder „Batman“ – „blöd ist bloß“, ärgert sich Sebastian, „daß am Ende immer die Guten gewinnen“.

Auch Benny leidet darunter: „In echt gewinnen ja auch manchmal die Bösen“, weiß er aus der Tagesschau. Alle nicken. Würden einmal die Bösen siegen – das wäre was. Hoho! „Man könnte dann eine neue Folge machen, und dann würden die Schufte echt vernichtet.“

Mit Gewalt in Comic strips haben die Kids angeblich keine Probleme. Deshalb protestierten sie heftig, als die Serie „X-Men“ wegen „jugendgefährdender Gewalt“ abgesetzt wurde. Bis dahin war der Comic lange Pflichttermin an jedem Samstag. „Da müssen die Eltern ihre Kinder eben belehren, daß es nur Trickfilm ist“, schlägt Marian vor. Außerdem gebe es doch in jeder Nachrichtensendung „tausendmal mehr Krieg und Gekloppe“ zu sehen.

Doch längst sind an die Stelle der X-Men neue Superhelden getreten. Und mit neun sieht man echte Action ja sowieso viel lieber als Zeichentrick. „Wenn ich manchmal am Wochenende bei einem Freund schlafe“, beichtet einer, „gucken wir Horrorfilme und so was.“ Er spricht es wie „Horro“ aus.

Den Gruselschocker „Es“ nennt einer der anderen einen „echten Klassefilm“. Begeistert sind sie auch von „Total Recall“ mit Schwarzenegger. Bei dem ist Marian mal eingeschlafen. Nur das erzählt er lieber nicht, wenn die anderen dabei sind.

Viel bedeutet es ihnen, „cool“ zu sein. Wichtig sind die Klamotten. „Du brauchst eine Sonnenbrille, orange Schlaghosen und ein Witboy-Shirt“, berichtet Benjamin. Die Jacke drüber sollte möglichst lang sein, und das Basecap muß verkehrt herum getragen werden. Erwachsene haben davon wenig Ahnung: „Ich sage, was ich haben will, und Mutti kauft das dann.“

Doch Junge sein Mitte der neunziger Jahre ist nicht so einfach. Eine riesige Reklamemaschine ist rund um die Uhr damit beschäftigt, den Kindern neue Wünsche und Sehnsüchte einzuimpfen. Videospiel und Trickfilmfigur, Fernsteuerauto und Borussia-Dortmund-Dress.

„Manchmal weiß ich gar nicht mehr, was ich eigentlich will“, stöhnt Benny. Eine Klage, in die alle einstimmen. Das Taschengeld reicht hinten und vorn nicht, verdient man sich mühsam etwas dazu, „ist die Kohle viel zu schade zum Ausgeben“.

Die Versuchung ist riesig. Im Supermarkt lange Finger gemacht haben alle schon mal. Tapfer bekennen sie ihre Taten: „Tätowierbilder von Ketchupflaschen gezogen“ und „Mickey-Aufkleber von Joghurts eingesteckt“. Einer von ihnen hat sogar mal versucht, eine X-Men-Figur mitgehen zu lassen. Sie haben ihn prompt dabei erwischt. „Das war fürchterlich“, gesteht er zerknirscht, „ich bereue heute noch.“ Nie mehr werde er klauen.

Doch auch in anderer Beziehung macht der Jungenjahrgang so seine Erfahrung. Der Stärkere bekommt, was er will – wie im Zeichentrick. Den Sebastian haben sie mal verprügelt und ihm zehn Mark geklaut, Stefan wurde in eine Falle gelockt, weil größere Jungs sein Basecap haben wollten, und Marian ist auch schon von einer Clique Älterer überfallen worden. „Dagegen“, finden sie kollektiv, „sollte die Polizei mal was machen – die einsperren oder so, die Verbrecher.“

Für einen mit neun Jahren, einhundertfünfzig Zentimeter hoch und Größe 37 an den Füßen, ist die Welt noch einfach zu regieren. Hier die Bösen, da die Guten – ein großer Comic. Sie selbst sind natürlich die Guten. Batman und Robin oder Captain Planets Planetenteam, das auszieht, die Erde zu retten.

Hätten sie etwas zu sagen, ihre Methoden wären so radikal wie die ihrer Vorbilder: „Wer den Krieg in Jugoslawien angefangen hat, gehört abgeknallt“, bestimmt Marian. Wer die Umwelt verschmutzt, kräht Stefan, müsse in den Knast. Lebenslang, versteht sich. Und nicht nur das. „Schon wer Papier einfach auf die Straße schmeißt, sollte bestraft werden“, schlägt Sebastian vor. Am besten mit einem Jahr Straße kehren.

Warum die Regierung, von der sie bloß den „dicken Kohl“ kennen, nicht mal was unternimmt gegen „die ganze Umweltverschmutzung“, ist ihnen ein Rätsel. „Ich sehe nicht, daß die sich kümmern“, urteilt Sebastian bedächtig, aber vielleicht liege das ja daran, „daß die nicht umweltfreundlich sind“. Schließlich fahren Politiker, man sieht das ja immer in den Nachrichten, die größten Autos. Und Autos, das gilt als sicher, machen den Wald kaputt. „Ohne Wald“, da ist Benny sicher, „werden wir später keine Luft mehr zum Atmen haben.“

Eigentlich eine Sauerei. Aber daß trotzdem alle Erwachsenen Auto fahren, wundert keinen: „Manchmal sind die ganzen Großen eben schrecklich doof.“ Die fünf Kleinen haben deshalb letztens einen „Umweltklub“ gegründet. Mit ihren Fahrrädern kurven sie seitdem nachmittags durch den Park hinter ihrem Viertel und versuchen wie das ruhelos um die Erde düsende Planetenteam, die Umwelt zu retten.

Ein bißchen wenigstens. „Papier auflesen, Nägel aus Bäumen popeln und so.“ Mit neun hat man noch große Träume. Allerdings auch schon eine kleine Ahnung vom richten Leben: „Fliegen“, das wollen sie als Unterschied zum echten Planetenteam doch festgehalten wissen, „können wir nicht.“