Vater, Henker, Rätsel

„Gott: eine Biographie“ – Beim Versuch, die Bibel literarisch zu lesen, wurde ein einsamer Protagonist angetroffen, der kein Privatleben besitzt  ■ Von John Barton

Für gewöhnlich wird angenommen, daß der Gott, von dem die Bibel spricht, unveränderlich ist – schließlich heißt es: „Ich, der HERR, habe mich nicht geändert“, (Malachi 3,6). Die Vorstellung, daß Gott eine Biographie hat, und daß diese Biographie aus der Bibel ableitbar ist, hat also etwas Paradoxes. Aber Jack Miles demonstriert in seinem neuen Buch, daß dieses Paradox nur ein scheinbarer Widerspruch ist, daß sich das Gottesbild der hebräischen Bibel verändert und entwickelt, und daß es das Dogma von der göttlichen Unverrückbarkeit ist, von dem wir uns verabschieden müssen, wenn wir die Bibel genauer lesen.

Bibelforscher haben lange behauptet, daß sich die Vorstellung von Gott im alten Israel im Laufe der Zeit geändert hat. Ein Gott, der ursprünglich eine Stammesgottheit unter vielen war, wurde zunächst das einzige Anbetungsobjekt der Juden und schließlich der einzige Gott überhaupt. Diese Ansicht mag stimmen oder nicht; sie ignoriert, beispielsweise, Unterschiede innerhalb der israelischen Gesellschaft (in der einige Leute „höher entwickelte“ Vorstellungen von Gott gehabt haben mögen als andere) und die Tatsache, daß in vielen Kulturen des Mittleren Ostens der Monotheismus längst vorherrschend war.

Es kommt Miles – einem Harvard-Professor, früheren Jesuiten und herausragenden Kenner antiker semitischer Religion – nicht auf die historische Entwicklung eines theologischen Glaubenssatzes im eigentlichen Sinne an. Er interessiert sich einzig für die Entwicklung des göttlichen Charakters im Text. Auch im „Hamlet“ habe man es – wie in allen Texten, die außerhalb der historischen Zeit existieren – mit einem Charakter zu tun, der sich im Lauf des Stückes ändert. Der Hamlet des ersten Akts ist anders als der des fünften Akts, und man versteht Akt eins falsch, wenn man darauf besteht, Kenntnisse aus dem fünften Akt hineinzulesen.

So verhält es sich auch mit der Bibel: Obwohl sich aus ihr eine Art Gesamtbild Gottes ergibt (es findet sich im 5. Buch Mose), stellt sich bei genauer Betrachtung heraus, daß „Gott“, der literarische Charakter, sich zwischen Genesis, dem ersten Buch der hebräischen Bibel, und Chroniken 2, ihrem letzten, radikal verändert. Miles weiß durchaus, daß das Verfassen von Charakterstudien von Menschen in Romanen oder Stücken in der literarischen Welt nicht mehr angesagt ist, obwohl er glaubt, daß sie selbst da ihren Platz hat. Aber was die Bibel betrifft, weist Miles darauf hin, daß ein solcher Versuch nicht etwa unternommen und gescheitert ist, sondern daß es nie einen gegeben hat.

„Gott: eine Biographie“ ist eine provokante und triumphale Bestätigung dieser grundsätzlichen, simplen, aber zugleich kühnen Idee.

Miles Projekt stützt sich vor allem auf die hebräische Bibel und nicht auf das christliche Alte Testament. Das Alte Testament der Protestanten enthält die selben Bücher wie die hebräische Bibel, aber in einer anderen Reihenfolge; die katholische Bibel wiederum hat zusätzlich noch andere Bücher. Das Alte Testament beginnt, wie die hebräische Bibel, mit dem Pentateuch oder den Büchern Mose (Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium) und die Bücher Josua, Samuel, Könige – aber dann ändert sich die Reihenfolge. Im christlichen Alten Testament bilden die Propheten den Übergang zum Neuen Testament. Die jüdische Heilige Schrift, in der es eine solche Funktion der Vorbereitung auf eine vermeintlich noch größere Offenbarung nicht gibt, hat ihre eigene Logik. Sie stellt die Propheten an den Schluß der historischen Bücher, die sie ja sozusagen erläutern, und wendet sich dann den poetischen Büchern und anderen Werken zu, die nicht in die vorherigen Abschnitte gehören.

Miles arbeitet sich nun durch den Tanach (die verschiedenen Abschnitte der hebräischen Bibel: Tora, Propheten und Schriften) und beschreibt Gott so, wie man ihn dort antrifft. Am Anfang hört man Gott zu sich selbst sprechen, während er die Welt plant (Genesis 1,3); es endet mit seinem Schweigen. Es ist bemerkenswert, daß Gott nach seiner Antwort auf Hiob in den gesamten noch verbleibenden neun Büchern nicht mehr spricht. Es stimmt: Gott spricht in der Bibel sehr viel seltener, als man gemeinhin glaubt. Die Bibel sagt zwar viel über Gott, aber in den seltensten Fällen heißt es „Und also sprach der Herr:...“.

Nun gibt es aber einige Bücher, in denen Gott vollends stumm ist. Miles' Beobachtung, daß sich diese Bücher alle am Schluß des biblischen Kanon befinden, ist brillant. Es beschreibt genau den Tenor, den die Autoren der Bibel oft vermitteln: Daß nämlich die Zeit, in der Gott frei mit der Menschheit kommunizierte, in der Vergangenheit liegt, und daß er, je mehr wir zum Ende des Kanons gelangen, zunehmend verstummt.

Zwischen Gottes ursprünglicher Rede und seinem finalen Schweigen gibt es viel über ihn zu erfahren, und sein Charakter entwickelt sich in atemberaubenden Ausmaßen. Eine der attraktivsten Eigenschaften dieses Buches ist die Tatsache, daß Miles frei mit den Gott zugeschriebenen Charaktereigenschaften und seiner Vermenschlichung experimentieren kann, weil er eben gerade nicht versucht, ein zentrales theologisches Motiv zu vermitteln. Manchmal geht das ein bißchen schief, wie zum Beispiel, wenn er die zwei Namen Gottes, „Gott“ und der „Herr“ herbeizieht, um einen Fall von Doppelcharakter zu konstruieren: Gott erscheint in diesen Kapiteln als einerseits aggressiv fordernd und eifersüchtig, andererseits eher zurückgezogen und wohlwollend.

Aber in den meisten anderen Fällen ist Miles' Sichtweise eine echte Bereicherung – kein moderner Theologe würde so an die Dinge herangehen, und übrigens auch kein mittelalterlicher. Jedes Kapitel ist einer anderen Charakteristik gewidmet: Schöpfer, Zerstörer, Freund der Familie, Befreier, Henker, Feind, Zuschauer, Vater, Rätsel und – Weib. „Angefangen mit den Abschnitten in Isaiah spricht Gott von sich zunächst recht frei als Vater und Mutter; aber statt hierin die Wiederkehr des Weiblichen zu sehen, sollten wir bedenken, daß diese Offenheit Teil einer regelrechten Explosion metaphorischer Ausdrücke ist, in denen er sich als Ehemann, Geliebter, Hirte, Erlöser (eine Metapher für den Freikäufer aus der Sklaverei), und vieles andere bezeichnet. Die Tendenz geht eindeutig in Richtung Zuwendung und Sanftmut; aber da die weiblichen Gottheiten des Nahen Ostens ganz besonders wild und grausam sind, bedeutet diese Tendenz an sich noch keine Feminität.“

Miles' Werk ist eine interessante Mischung aus dem „historischen“ Stil der Bibelexegese – den er respektiert, aber nicht zu seinem Anliegen macht – und einer literarischen Lesart der Bibel in ihrer kanonischen Ordnung als ein einziges „Werk“.

Die Entwicklung des Monotheismus im alten Israel, so Miles, führte dazu oder war ein Resultat der Tatsache, daß in Yaweh nun die Eigenschaften all jener Götter zusammenflossen, die er ersetzt hatte. Wenn Baal Regen und Fruchtbarkeit bringen konnte, so konnte Yaweh dies nun auch; wenn Marduk die Welt erschaffen hatte, so war es nun Yaweh, und wo Anat Dürre und Desaster brachte, konnte Yaweh das erst recht.

Das Ergebnis, so behauptet Miles überzeugend, ist ein Shiva- ähnlicher Gott, der Erschaffer und Zerstörer zugleich ist, Herrscher und Befreier, männlich und weiblich. Der einzige Gott Israels vereint so in sich Eigenschaften, die ihn paradoxerweise sehr viel anthropomorpher werden lassen als die zweidimensionalen Götter, die er verdrängte. Denn jede dieser Charakteristika ist sozusagen die Verkörperung eines einzigen menschlichen Attributs in einer göttlichen Größenordnung.

Aber was historisch aus den Vorstellungen Israels von Gottes Wesen wurde, findet seinen Niederschlag in der Welt des Textes, wenn wir die hebräische Bibel in ihrer kanonischen Reihenfolge lesen. Immer mehr Attribute werden „Gott“ zugeordnet. Das monotheistische System präsentiert uns einen Gott, der keine anderen

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Gefährten im Leben hat als die Menschen, denn die vielen anderen Divinitäten, die in den meisten Religionen die Welt der Götter bevölkern, sind aus ihr vertrieben. „Nicht genug damit, daß er keinen Austausch mit anderen Göttern hat“, schreibt Miles, „er hat auch nichts, was man ein Privatleben nennen könnte. Sein einziger Weg, eigene Interessen zu verfolgen, ist vermittelt über den Menschen.“

Die Bibel „als Literatur“ zu lesen ist inzwischen höchst populär; Theologen tun es, die traditionellerweise die Bibel eher historisch oder philologisch gelesen haben, und die Literaturkritiker tun es auch. „Gott: eine Biographie“ läßt sich mit Frank Kermodes Literaturführer durch die Bibel vergleichen, der ebenfalls versucht, die vorliegende Form des Textes zu interpretieren, anstatt Hypothesen über frühere Formen zu rekonstruieren, und sich der Bibel auch zu nähern wie jedem anderen literarischen Werk.

Miles geht allerdings einen Schritt weiter, indem er den gesamten biblischen Kanon und dessen Arrangement zu erfassen versucht. Dennoch ist seine Arbeit, wenngleich originell, nichts besonders Exzentrisches im Vergleich zu dem, was sich ansonsten in der Bibelforschung tut.

Niemand hat die gegenwärtige Form der hebräischen Bibel genau so intendiert, wie sie jetzt vorliegt; ihre Zusammenstellung ist das Resultat teils von Absichten, teils von Zufällen. Aber sobald man es mit einer literarischen Kultur zu tun hat, in der die Intention des Autors als Hersteller von Bedeutung ohnehin entthront ist, ist es völlig unproblematisch, einen solchen Text als kohärente Einheit zu interpretieren. Wir leben seit einigen Jahren in einer solchen Kultur, und es ist schon überraschend, daß bisher noch niemand eine holistische Lesart der gesamten hebräischen Bibel versucht hat. Miles ist der erste, und seine Entscheidung, dies am Beispiel des göttlichen Charakters zu tun, ist, wie gesagt, ein brillanter Schachzug.

Als jemand, der mehr von der „historischen“ Bibelforschung kommt, habe ich allerdings nach der Lektüre noch einige Fragen. Ein gewichtiger Teil der Milesschen Analyse basiert auf der exakten Form und Struktur der hebräischen Bibel, wie sie gegenwärtig im Judentum anerkannt werden. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, solange man sich nur darüber im klaren ist, wie wenig Absicht hinter dieser Form steckt. In der Antike wurden die Bücher der Bibel auf einzelnen Rollen aufgeschrieben, und es existierte kaum eine Vorstellung von so etwas wie „Reihenfolge“, und das über mehrere Jahrhunderte.

Miles macht viel davon her, daß die hebräische Bibel mit den Büchern Ezra, Nehemia und Chroniken endet, was seltsam ist, weil es der Logik der Erzählung nach eigentlich Chroniken, Ezra, Nehemiah sein müßte. Ezra nämlich beginnt mit denselben Worten, mit denen die Chroniken enden: „So spricht Cyrus, der König von Persien: Alle Königreiche der Erde hat mir der Herr, Gott des Himmels, gegeben, und er hat mir selbst aufgetragen, ihm zu Jerusalem in Juda ein Haus zu bauen. Wer immer unter euch zu seinem Volke gehört, mit dem sei Gott, und er ziehe hinauf!“

Wenn man also in dieser Reihenfolge liest, ergibt sich eine kreisförmige Erzählung, aus der sich ein Bild Gottes als Perpetuum mobile ergibt.

Daß diejenigen, die den Kanon zusammenstellten, diese Reihenfolge wählten, legt in der Tat nahe, daß sie mehr an der theologischen Idee von Gottes ewig wiederholten Versprechen waren, Jerusalem wiederherzustellen, als an bloßer historischer Erzählung.

Aber die Bibel ist konfuser als die meisten Theorien über ihre Ordnung. Miles macht diese Konfusion gerade zu seinem Thema. Wenn es überhaupt irgendwelche Konsequenzen für den religiösen Glauben gibt, die aus seiner Lesart folgen könnten, dann würden sie mit dem zusammenhängen, was Miles den „aleatorischen Charakter“ der Art und Weise nennt, in der Gott porträtiert wird. „Einiges von der anhaltenden Faszination der hebräischen Bibel kommt eben durch ihren aleatorischen oder zufälligen Charakter zustande. In der Kunst wird nichts dem Zufall überlassen. In der realen Welt hingegen ist der Zufall für sehr vieles verantwortlich. Und so zieht ein Hauch von Wirklichkeit durch das Kunstwerk, das Zufall zuläßt oder zumindest imitiert.“

Wer „Gott: eine Biographie“ liest, wird finden, daß die Bibel hier nicht nur an ihren Platz im literarischen Kanon zurückfindet, daß sie nicht nur „lesbar“ wird, sondern sie erscheint als ein extrem ausdrucksstarkes, komplexes und ambivalentes Kunstwerk. Hier ist sie mehr als die Zitatquelle, für die sie sonst oft gehalten wird. Ich hoffe, Miles macht sich bald an das Neue Testament.

Jack Miles: „God: A Biography“. New York, Knopf Verlag, 446 Seiten. Soll demnächst in deutscher Übersetzung erscheinen, Verlag noch unklar

C: New York Review of Books. Übersetzung aus dem Englischen: Mariam Niroumand