Walesa reitet letzte Attacke

Spionage-Vorwürfe gegen Polens Premier  ■ Aus Warschau Jacek Pawlicki

Die Warschauer Gerüchteküche kocht: Am Dienstag abend berief der noch amtierende Präsident Lech Walesa plötzlich eine Sitzung der höchsten Würdenträger Polens ein – aber unter Ausschluß von Premierminister Jozef Oleksy. Im Anschluß daran wurde bekannt, Innenminister Andrzej Milczanowski habe bei der Warschauer Militärstaatsanwaltschaft Anzeige gegen den Premierminister wegen Verdachts auf Spionage eingereicht. Die Militärstaatsanwaltschaft bestätigte, daß Innenminister Milczanowski belastetende Dokumente übergeben habe – allerdings ohne auf den Inhalt und die Person des Verdächtigen einzugehen. Es wurde nur mitgeteilt, daß es sich um „einen hohen Würdenträger“ handele.

Die Walesa nahestehende und gegenüber der Regierung sehr kritisch eingestellte Tageszeitung Zycie Warszawy berichtet in ihrer neusten Ausgabe, Premierminister Oleksy solle in seiner Zeit als Parlamentspräsident von 1983 bis 1994 KGB-Spion gewesen sein. Ein Sprecher des russischen Geheimdienstes erklärte dagegen einem Warschauer Privatsender, weder Oleksy noch Kwaśniewski seien je KGB-Agenten gewesen. Regierungssprecherin Aleksandra Jakubowski sagte zu den Vorwürfen, bei dem heutigen Stand der Technik könne man jedes Dokument fälschen.

Eine Sprecherin der regierenden Sozialdemokraten erklärte, die Anschuldigungen gegen Oleksy seien Quatsch. Die sogenannten Geheimdokumente seien vermutlich Videobänder, die Oleksy beim Tennisspiel mit Partnern zeigten, die für den sowjetischen Geheimdienst KGB gearbeitet haben könnten. Vielmehr sei dies eine erneuter Versuch Walesas, seinen Nachfolger Kwaśniewski in Mißkredit zu bringen. Walesa werde wohl eher „Polen anzünden als die Macht abgeben“, sagte die Sprecherin. Nach der Verfassung soll der bisherige Chef der Sozialdemokraten, Aleksander Kwaśniewski am 23. Dezember als neuer Präsident vereidigt werden. Walesa erklärte bereits, er werde der Zeremonie fernbleiben.

Premierminister Oleksy sprach von einer schmutzigen Provokation. Wenn es eine Bedrohung für den Staat gebe, dann von denjenigen, die nicht in der Lage sind, ihre Funktionen in Würde aufzugeben, sagte er. Am Mittwoch mittag berief er die Regierung zu einer Sondersitzung ein. Zuvor hatte er den Antrag gestellt, das nationale Sicherheitskomitee einzuberufen. Dieses lehnte Walesa ab, eine akute Gefahr für Polen bestehe zur Zeit nicht, so der Präsident. Ebenfalls am Dienstag abend hatte Premier Oleksy eine Rede im staatlichen Fernsehen kurzzeitig absetzen lassen, „weil er mit dem Text nicht gänzlich zufrieden war“, wie seine Sprecherin mitteilte. Sie dementierte, daß Oleksys Rückzug mit dem Spionagevorwurf zusammenhänge. Die Rede sei auf Mittwoch abend verlegt. Radiosender berichten, Walesa erwäge auch seinerseits eine Rede im staatlichen Fernsehen.

Im Parlament trat am Mittwoch der Überwachungsausschuß für die Geheimdienste zusammen. Ryszard Bugaj, Chef der oppositionellen Arbeitsunion, sagte vor der Sitzung: „Entweder sind diese Vorwürfe Verrat oder ein Putschversuch.“ Sollten sich die Anschuldigungen gegen Oleksy bestätigen, muß das Parlament, in dem Oleksys Partei die größte Fraktion stellt, dessen Immunität aufheben und Anklage vor dem Staatstribunal erheben. Doch zunächst einmal hat die Militärstaatsanwaltschaft 30 Tage Zeit, Milczanowskis Material zu prüfen, bevor sie sich an das Parlament um Aufhebung der Immunität Oleksys wendet. Laut Verfassung kann Walesa, wenn die nationale Sicherheit bedroht ist, für drei Monate den Ausnahmezustand verhängen, weitere drei Monate ist das nur mit Zustimmung des Parlaments möglich. Das Parlament kann in dieser Zeit nicht aufgelöst werden, die Amtszeit des Präsidenten wird aber nicht verlängert. Sie endet nach der Verfassung am Freitag um 24 Uhr.