Islamisten als lachende Dritte des Wahlkampfes

■ Am Sonntag wählt die Türkei ein neues Parlament. Tansu Çiller muß bangen

Istanbul (taz) – Am kommenden Sonntag werden 34 Millionen Wähler über die Zusammensetzung des türkischen Parlamentes entscheiden. Den Wahlkampf zu dieser „Schicksalswahl“, wie sie bereits apostrophiert wird, bestimmt die Auseinandersetzung der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller von der rechtsbürgerlichen „Partei des rechten Weges“ (DYP) mit dem Oppositionsführer Mesut Yilmaz von der Mutterlandspartei (ANAP). Die Programmatik der beiden Parteien unterscheidet sich kaum: Beide setzen auf die Liberalisierung der Wirtschaft, während sie das autoritäre politische Regime – insbesondere die harte Linie in der Kurdenpolitik – aufrechterhalten wollen. Dennoch – oder gerade deswegen – zeichnet sich der Wahlkampf durch wüste Beschimpfungen aus. Yilmaz nennt Çiller eine „byzantinische Intrigantin“, „Lügnerin“ und „Hochverräterin“. Çiller stellt Yilmaz als „heimlichen Islamisten“ dar. Meinungsumfragen zufolge – sie dürfen nach dem türkischen Wahlgesetz eigentlich nicht veröffentlicht werden – bewegt sich der Stimmenanteil von DYP wie ANAP um 20 Prozent.

Diejenige der beiden Parteien, die mehr Wählerstimmen auf sich vereinigen kann, wird wahrscheinlich auch den künftigen Ministerpräsidenten stellen, allerdings wohl nur in einer Koalition. Dafür dürften sich die sozialdemokratische „Republikanische Volkspartei“ unter Deniz Baykal sowie die linkspopulistische „Partei der Demokratischen Linken“ anbieten, wenn sie ins Parlament einziehen.

Die großen bürgerlichen Tageszeitungen Sabah (Der Morgen), Hürriyet (Die Freiheit) und Milliyet (Die Nation) sowie private Fernsehsender sind mittlerweile zu unmittelbaren Propagandaorganen für entweder Çiller oder Yilmaz geworden. Beide werben damit um die Stimmen der bürgerlichen Wähler, die den Aufstieg der islamischen „Wohlfahrtspartei“ (Refah) fürchten und daher am liebsten der stärksten unter den beiden Parteien ihre Stimme geben würden – wenn sie nur wüßten, welche die stärkste ist.

Die Wahlpropaganda der beiden großen Parteien besteht darin, den Gegner beziehungsweise die Gegnerin als Kollaborateur mit den Islamisten darzustellen. Lachende Dritte dabei sind daher die Islamisten selbst in Form von Necmettin Erbakan und der islamistischen Wohlfahrtspartei. Bereits bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1994 gewann die Wohlfahrtspartei die Bürgermeisterposten der großen Städte wie Istanbul und Ankara. Schon 20 Prozent könnten ihr jetzt reichen, um stärkste Fraktion im Parlament zu werden. Erbakan denunziert alle anderen Parteien als gottlose „Systemparteien“, während seine Gruppierung die „Systemalternative“ sei. Doch Chancen auf Regierungsbeteiligung kann sich Erbakan nicht ausrechnen. Er fände keinen Koalitionspartner im Parlament. Schaden hat der Partei überdies zugefügt, daß sie das Versprechen, Kandidatinnen aufzustellen, zum Ärgernis der zahlreichen Parteiarbeiterinnen nicht erfüllte.

Ein weiterer Schlag gegen Erbakan ist das Auftreten der Demokratischen Volkspartei (Hadep), Nachfolgerin der verbotenen „Partei der Demokratie“. Zwei aus dem Gefängnis entlassene Abgeordnete kandieren auf der Hadep- Liste, die ein Bündnis mit kleinen sozialistischen Parteien eingegangen ist. Intellektuelle wie der Romancier Yasar Kemal und linke Gewerkschafter unterstützen die Hadep, die in der touristischen Provinz Mugla eine Grüne auf Listenplatz eins setzte. Es ist so gut wie sicher, daß ein Großteil der Stimmen in Kurdistan an Hadep gehen. Sie hat sogar Chancen, die landesweite Zehnprozenthürde zu überspringen. Die Regierung übt bewußt Toleranz gegenüber der Kurdenpartei, um den Islamisten das kurdische Wählerpotential zu entreißen. Ömer Erzeren