Schnee auf Papst, Palme und Pumuckl

Dicht und doch locker müssen die Flocken rieseln, und mindestens 10,15 Sekunden lang: Im Odenwald werden seit den fünfziger Jahren Schneekugeln produziert – still und leise ist es in den Produktionshallen  ■ Von Heide Platen

Sachte sinken weiße Flocken auf die roten Rosenblätter. Die Stoppuhr zählt 20 Sekunden, bis auch die letzte gelandet ist. Hier wird nicht Sommer in den Winter hineingeträumt, sondern getestet, ob das Produkt den Qualitätskriterien entspricht. Mindestens 10,15 Sekunden lang sollen die Flocken in einer ordentlichen Schneekugel fallen – dicht und locker und nicht spärlich oder klumpig. „Daran“, so Stefan Koziol, „erkennt man die Qualität.“

Bei der Firma Koziol in Erbach im Odenwald, einem der beiden großen deutschen Hersteller, schneite es in den letzten beiden Jahren vor allem auf Sonne und Mond. Heuer neige der Trend zu Bärchen. Koziol ist schon im Entree eine Traumfabrik. Kobolde aus Industrieschrott stehen zur Begrüßung vor dem Eingang. Im Foyer haben die Glühlampen kleine, weiße Federflügel, und vor der Telefonanlage streut eine Riesenschneekugel Flitter auf Clowns und einen Zirkustiger.

Flammende Herzen, Froschkönige und Blütenkugeln stehen in den Vitrinen. Auf einem Plakat fliegt ein Prinz aus Tausendundeiner Nacht mit seiner Kristallkugel. Das Firmenvideo dudelt: „Das ist meine kleine, heile Welt. Sie ist frei und ohne Sorgen.“ Rund 20.000 Schneekugeln werden „in der Saison“ wöchentlich produziert. Der Export geht vor allem in die USA und nach Japan.

Zur Jahrhundertwende kam Großvater Koziol als Töpfer aus Schlesien. Sohn Bernhard lernte das im Odenwald heimische, traditionelle Handwerk des Elfenbeinschnitzers. Für die Schule hatte er da wenig Zeit. 1927 machte er sich aus wirtschaftlicher Not, zuerst im Elternhaus, dann in einer Scheune, selbständig. Er schnitzte zierliche Elfenbeinrosen, Elefanten und Edelweiß, Schmuck, Brieföffner und Lesezeichen. Und er begann den Ersatzstoff Plastik zu verarbeiten. Den kleinen Möwen, als Anstecknadeln in Ausflugsorten von Amrum bis Tirol erhältlich, entging danach kaum noch ein Kind. Geliefert wurde auch damals bis in die USA. Der Betrieb wuchs auf über hundert Mitarbeiter und produzierte vor allem Reiseandenken. Es gab, so der Juniorchef, eine „richtige Lex Koziol“, die die Bijouterieherstellung aus Kunststoff einschränkte, um die traditionellen Schnitzer zu schützen: „Kunststoff war richtiges Teufelswerk.“ 1942 muß die Firma die Schmuckproduktion aufgeben und erst Abzeichen für das Winterhilfswerk, dann Rüstungszubehör herstellen. Sie beginnt nach dem Krieg wieder mit winzigen Alltagsartikeln, vor allem Knöpfen, Serviettenringen, Kuckuckspfeifen für Kinder und Schachfiguren.

Vollkommene Kugeln, Kuppeln, die ganze Welt im Glas des Kristalls eingefangen, griechische Kosmologie zur Welterkenntnis und mittelalterliche Sphärenmodelle als Machtinsignien – Schneekugelfans scheuen sich nicht, diese Verwandtschaft zu bemühen. Eine der schönsten Miniaturwelten hat Hieronymus Bosch gemalt. Die transparente Kugel birgt eine kleine, phantastische Welt. Albrecht Dürer läßt den heiligen Benedikt versonnen auf eine ihm entgleitende Kugelwelt blicken, in der sich fremdes und symbolisches Getier am Strand einer fernen Landschaft unter Sonne, Mond und Sternen tummelt.

Der Theologe und Sozialwissenschaftler Gerd Ludewig ist Schneekugelexperte und sinnert darüber, daß all diese Weltensichten „irgendwo ganz entfernt verwandt“ sind mit der trivialen kleinen Schwester. Nur sei sie eben nicht auf die Gesamtheit aus, sondern auf Teilaspekte, Augenblicke, flüchtige, unter Plastik konservierte Erinnerungen, zum Beispiel an einen Ort, eine Zeit, eine Gelegenheit. Und dann kann es allerdings im Schöpfungsakt der Schneekugelproduzenten überall auf der Welt und gnadenlos auf alles und jedes schneien, auf Surfer am Südseestrand, Pumuckl, den Papstpalast in Rom, Teddybärenbetten, Madonnen und Ravetänzerinnen.

Der Streit um die Erfindung der Schneekugel ist bis heute nicht entschieden. Senior Koziol erzählt gern die Geschichte, er habe in einem alten VW-Käfer im Schnee gesteckt und durch die ovale Heckscheibe eine Tanne, ein Reh und den rieselnden Schnee hinter Glas gesehen. 1950 entschied ein Gericht, daß die Konkurrenzfirma Walter & Prediger aus Kaufbeuren das gesetzlich geschützte Recht an Kugeln mit ovaler Grundfläche habe, Koziol aber runde machen dürfe. Walter & Prediger produzierte vor allem Kugeln mit religiösen und touristischen Motiven, Koziol solche mit Märchenfiguren. Stefan Koziol: „Seither hält sich das Gerücht, wir seien feindliche Brüder. Das stimmt aber nicht, wir arbeiten sogar manchmal zusammen.“ Wassergefüllte Glasstürze hat es jedenfalls schon auf Biedermeier-Vertikos gegeben. Die erste „echte“ Schneekugel soll 1878 auf der Weltausstellung in Paris gezeigt worden sein. In einem Bericht darüber ist ein wassergefüllter Briefbeschwerer mit Mann unter Regenschirm im Schneegestöber erwähnt.

Der 1987 erschienene Jubiläumskatalog von Koziol ist kulturgeschichtliches Dokument des Geschmacks und der Befindlichkeit deutscher Seelen seit 1927 mit Schlüsselbrettern voll röhrender Hirsche auf Birkenscheibenbildern, Autovasen, Wanduhren, Kuhglocken, Seestücken, Trinksprüchen. 1980 haben Bernhard Koziols Söhne die Firma übernommen und die Produktpalette nach und nach modernisiert. Zu den alten Motiven gesellten sich Marilyn Monroe und James Dean. Stefan Koziol: „Wir haben sie größer gemacht. Der Trend ging weg vom Kinderspielzeug.“

Es entstanden „kleine Welten, deren Geheimnis die Einfachheit ist“. Koziol setzte darauf, die von Fans liebevoll „Schneis“ genannten Kugeln den „Träumen der modernen Zeit“ anzupassen. Lizenzen für Film- und Fernsehfiguren wurden erworben: „Aber die sind richtig teuer.“ Mittlerweile geht es auch ohne, und einige Entwürfe sind kleine Kunstobjekte, in deren Entwurf „bis zu 10.000 Mark“ investiert wird. Der neue Froschkönig der Designerin Jo Marei Krämer ist dennoch voller Romantik. Er räkelt sich faul auf einem Thron, die Kugel lässig zur Seite gerollt. Die holländische Bildhauerin Hermenet Conti hat kunterbunte Drachentiere und Schlangen entworfen.

Anfangs murrten die ArbeiterInnen über die neumodischen Modelle und klebten anklagend alte Figürchen auf ihre Maschinen. Alle Modelle werden zuerst mit der Hand hergestellt, dann in Stahlformen geätzt. Stefan Koziol hat seine Abiturarbeit über Kaspar Hauser geschrieben, sinniert über Außen- und Innenwelten und kommt am Ende darauf, daß Nutzlosigkeit und Freude doch sehr dicht zusammenliegen.

In den Produktionshallen geht es gemächlich zu. Ab und zu klacken hier zwei Schuhlöffel auf ein Band, dort ein blauer Weihnachtsteller, rote Tannen und Herzen. Die Plastikabfälle werden wiederverwertet. Stefan Koziol diskutiert nebenbei Mischung und Farbe für einen Untersetzer. Eine Wodkafirma läßt mit Schneekugeln werben, an anderer Ecke entstehen Weihnachts-, Schneemann- und Teddybärenkugeln, wird gerührt und gefüllt. Zwischendurch müssen die Kugeln ablagern und dann mehrmals nachgefüllt werden, um Luftblasen zu vermeiden. Sie machen inzwischen wieder 35 bis 40 Prozent der Produktion aus, haben ein neues Markenzeichen und sind in „Traumkugeln“ umbenannt, weil nicht mehr in jeder Kugel Schnee fällt. Das Gestöber flattert nicht mehr nur weiß, sondern auch als bunter Flitter. „Öko-balls“ nennen Experten jene Kugeln, in denen symbolisch schwarzer Schnee auf Stadtpanoramen rieselt.

Die Konkurrenz der Billigprodukte aus Asien sieht Koziol gelassen: „Wir müssen einfach vom Intellekt besser und cleverer sein.“ Seine Schneekugeln seien „Visionen, Ideen und keine Produkte“. In einem der neuen Entwürfe steht der „kleine Prinz“ auf seinem Planeten. Vielleicht lächelt der Mond in der aufwendigen großen Kugel mit Musikspieluhr auch deshalb so asiatisch weise und gelassen. Der Aufwand für solche Kopien ist hoch und dürfte den Plagiatoren gar nicht gefallen. Asiatische Plagiate können allerdings noch kurioser sein als die Originale und haben deshalb auch ihren Sammlerwert, wenn der Mund einer Figur beim maschinellen Bemalen auf die Wange gerutscht ist, Maria eine Glatze hat oder Städtenamen vertauscht wurden. Das kann Koziol bei seinen in Heimarbeit handbemalten Figuren nicht passieren.

SammlerInnen von Schneekugeln sind nachsichtige Menschen. Kritik an ihrem Hobby nehmen sie vorweg: süßliche Innerlichkeit, falsches Gefühl, Realitätsflucht, schlicht Kitsch. Alles ganz richtig, räumen sie ein und zitieren zum Beweis Arno Schmidt. Rolf Dragstra schreibt in „Die Schneekugel – das vollklimatisierte Reiseandenken“: „Der leise rieselnde Schnee endlich muß uns... wie der leise rieselnde Kalk im Hirngebälk eines Petrarcaschen Melancholikers unterkommen... Der sich unter Tränen angesichts solcher kleinen Idyllen aus den 50er-Jahre-Plasten vergeblich in die Wirklichkeit jenseits aller Phantome und Bildschirme zurückzuschicken versucht.“

Geheimnisse gibt es in der Produktion immer noch. Eines davon, so Koziol, „ist das Odenwälder Quellwasser“. Ein bißchen werde das schon haltbar gemacht, wie, werde nicht verraten: „Aber Wasser ist lebendig.“ Es muß gefiltert und entkeimt werden, „aber nicht mit aggressiver Chemie“. Die Schneekugeln sind, wegen unvermeidlicher Verdunstung, mit abgekochtem Leitungswasser nachfüllbar.

Fotos: Holger Floß