Dem Vaterland ist nichts zu teuer

■ Lüneburger Staatsschutzkammer inszeniert an 114 Verhandlungstagen Mammutverfahren gegen Göttinger Autonome – wegen Fahnenverunglimpfung, Vermummung und Zwillenbesitz. Kosten: dreieinhalb Millionen Mark

Hannover (taz) – Mit einem Mammutverfahren will die Staatsschutzkammer beim Landgericht Lüneburg 17 Göttinger Autonomen das Handwerk legen: An 114 Verhandlungstagen will die Große Strafkammer gegen die „Autonome Antifa Mittwochgruppe“ (Antifa M) verhandeln. Dabei geht es vor allem um Verstöße gegen das Versammlungsgesetz, die die Göttinger im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangen haben sollen. Für die vermeintlichen Organisatoren des „schwarzen Blocks“ auf Demonstrationen drohen damit die Prozeßkosten und -strapazen zur Hauptstrafe zu werden. Denn das Gericht besteht auf zwei Verteidigern pro Angeklagtem – damit dürften etwa 3,5 Millionen Mark an Anwaltskosten anfallen, das sind für jeden etwa 200.000 Mark.

„114 Tage Freiheitsentzug und die Mindesthöhe der Geldstrafe sind damit bereits festgelegt“, so die Antifa. Auch die Anträge der Verteidigung auf zwei statt drei Verhandlungstage pro Woche und auf Verlegung des Prozesses von Lüneburg nach Göttingen wurden zurückgewiesen. Anstelle der fünf Richter und Schöffen müssen jetzt siebzehn Angeklagte und 34 Verteidiger regelmäßig 250 Kilometer zurücklegen.

In dem Verfahren, das bis April 1997 dauern soll, werden den Angeklagten folgende Straftaten vorgeworfen: Insgesamt 22mal sollen sie gegen Bestimmungen des Versammlungsgesetzes verstoßen haben, etwa unangemeldete Demonstrationen durchgeführt oder schwarz gekleidet das Vermummungsverbot mißachtet haben. Einmal wird ihnen eine Verunglimpfung der deutschen Fahne zur Last gelegt. Zweimal soll die Antifa M die Polizei zur Zurückhaltung bei Demonstrationen genötigt, einmal einen Hotelbesitzer zur Nutzung seines Nebeneingangs gezwungen haben. Zwei Autonome nannten eine Zwille ihr eigen (illegaler Waffenbesitz). Der schwerste Anklagevorwurf geht indirekt bereits auf die Ermittlungen gegen die Antifa M zurück: Bei einer Demo gegen den „Staatsterror“ sollen auf eine Gruppe von Polizeibeamten Farbbeutel, Flaschen und Steine geflogen sein. Die zahlreichen Verstöße sind für sich genommen nur mit Geldstrafen oder höchstens einem Jahr Haft bedroht. Den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung hatte die Kammer zunächst überhaupt nicht zugelassen, war aber vom Bundesgerichtshof korrigiert worden.

Jürgen Voges